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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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besitz erwerben könnten, aber nicht dürfen, weisen den Besitz von 300 Rub.
für sich und 100 Rub. für jedes Familienglied nach, um lieber auszuwan¬
dern, als jetzt außer allen andern Abgaben auch noch Trauungen, Beschrei¬
bungen ze. zu v erste u ern. Wenn sie Handwerker sind, finden sie im Innern
Rußlands lohnende Arbeit, sonst werden sie nicht besser fahren. Fremde Acker-
^ Wirthe, wie z. B. mecklenburgische, welche Geld hatten und sich gern nieder¬
lassen wollten, wurden ausdrücklich daran verhindert; die russischen dagegen
mögen nicht dort bleiben und ziehen wieder fort. So geht die Landwirth,
schaft in der Provinz dem Verfalle entgegen. Sogar die Pachtverträge von
Juden, die noch einiges Geld hatten, sollen aufhören, sodaß auch hier¬
durch dem Lande Schaden erwächst, denn das Gut wird nachher leer und
wüst. Es sind schon mehrfach Unruhen vorgekommen, weil die namentlich
im Winter unbeschäftigten und zum Militär nicht angenommenen Arbeiter
Noth litten. Um Wilna waren es 3000 Mann, welche im März zu Excessen
schritten, die mit Militärgewalt unterdrückt wurden. Ebenso fanden zur
selben Zeit auf der Herrschaft Bylitz des Fürsten Wittgenstein ernste Bauern¬
unruhen statt. Die Bauern hatten die Beamten verjagt und ihnen die amt¬
lichen Siegel abgenommen, die sie auch nach Unterdrückung des Aufstandes
nicht herausgeben wollten. Die Rädelsführer wurden grausam mit Ruthen
gepeitscht und dann eingesperrt. Güter, deren Besitzer die Abgaben nicht er¬
schwingen können, werden an Russen verkauft, wie die confiscirten Güter
der Polen, und zwar möglichst an verdiente russische Beamte, welche die Kauf¬
summe (etwa 3--7 S. Rub, pro Morgen) zahlen können. Bei dieser Ver¬
schleuderung sind 214,000 Morgen für nicht ganz eine Million Rubel verkauft
worden; im Gouvernement Minsk kam der Morgen nur 3 S. R., im Kreise
Pinsk it/z S. R. Aber die Regierung hat dabei ihren Zweck erreicht, daß
266 russisch-orthodoxe Familien an Stelle polnisch-katholischer gesetzt wurden.

Nach solchen Besitzveränderungen werden die Gewaltacte behufs Ein¬
führung der russischen Sprache fast Nothwendigkeit. Durch einen Mas aus
dem Februar d. I. wird der Gebrauch des Russischen im katholischen Gottes¬
dienst für obligatorisch erklärt und der Bisthumsverweser für jeden Ueber-
tretungsfall verantwortlich gemacht. Ein von 11 Prälaten, 29 Dekanen
und 230 Geistlichen unterzeichneter Protest in zwar ehrfurchtsvollen, aber
dennoch entschiedenen Ausdrücken ist Anfang Mai an den Minister nach
Petersburg abgegangen. Auch offener Widerstand ist bereits geleistet wor¬
den. So hat im April schon der Dekan der Stadt Wilna und Prior der
RafaeMrche. Petrowitsch, der wenige Tage vorher in eine Dorfpfarre über
geführt worden war, die zu vertheilenden Blätter des in russischer Ueber¬
setzung erschienenen Rituals öffentlich während des Gottesdienstes auf der
Kanzel verbrannt. Er nannte dabei zugleich diejenigen Priester, welche sich


besitz erwerben könnten, aber nicht dürfen, weisen den Besitz von 300 Rub.
für sich und 100 Rub. für jedes Familienglied nach, um lieber auszuwan¬
dern, als jetzt außer allen andern Abgaben auch noch Trauungen, Beschrei¬
bungen ze. zu v erste u ern. Wenn sie Handwerker sind, finden sie im Innern
Rußlands lohnende Arbeit, sonst werden sie nicht besser fahren. Fremde Acker-
^ Wirthe, wie z. B. mecklenburgische, welche Geld hatten und sich gern nieder¬
lassen wollten, wurden ausdrücklich daran verhindert; die russischen dagegen
mögen nicht dort bleiben und ziehen wieder fort. So geht die Landwirth,
schaft in der Provinz dem Verfalle entgegen. Sogar die Pachtverträge von
Juden, die noch einiges Geld hatten, sollen aufhören, sodaß auch hier¬
durch dem Lande Schaden erwächst, denn das Gut wird nachher leer und
wüst. Es sind schon mehrfach Unruhen vorgekommen, weil die namentlich
im Winter unbeschäftigten und zum Militär nicht angenommenen Arbeiter
Noth litten. Um Wilna waren es 3000 Mann, welche im März zu Excessen
schritten, die mit Militärgewalt unterdrückt wurden. Ebenso fanden zur
selben Zeit auf der Herrschaft Bylitz des Fürsten Wittgenstein ernste Bauern¬
unruhen statt. Die Bauern hatten die Beamten verjagt und ihnen die amt¬
lichen Siegel abgenommen, die sie auch nach Unterdrückung des Aufstandes
nicht herausgeben wollten. Die Rädelsführer wurden grausam mit Ruthen
gepeitscht und dann eingesperrt. Güter, deren Besitzer die Abgaben nicht er¬
schwingen können, werden an Russen verkauft, wie die confiscirten Güter
der Polen, und zwar möglichst an verdiente russische Beamte, welche die Kauf¬
summe (etwa 3—7 S. Rub, pro Morgen) zahlen können. Bei dieser Ver¬
schleuderung sind 214,000 Morgen für nicht ganz eine Million Rubel verkauft
worden; im Gouvernement Minsk kam der Morgen nur 3 S. R., im Kreise
Pinsk it/z S. R. Aber die Regierung hat dabei ihren Zweck erreicht, daß
266 russisch-orthodoxe Familien an Stelle polnisch-katholischer gesetzt wurden.

Nach solchen Besitzveränderungen werden die Gewaltacte behufs Ein¬
führung der russischen Sprache fast Nothwendigkeit. Durch einen Mas aus
dem Februar d. I. wird der Gebrauch des Russischen im katholischen Gottes¬
dienst für obligatorisch erklärt und der Bisthumsverweser für jeden Ueber-
tretungsfall verantwortlich gemacht. Ein von 11 Prälaten, 29 Dekanen
und 230 Geistlichen unterzeichneter Protest in zwar ehrfurchtsvollen, aber
dennoch entschiedenen Ausdrücken ist Anfang Mai an den Minister nach
Petersburg abgegangen. Auch offener Widerstand ist bereits geleistet wor¬
den. So hat im April schon der Dekan der Stadt Wilna und Prior der
RafaeMrche. Petrowitsch, der wenige Tage vorher in eine Dorfpfarre über
geführt worden war, die zu vertheilenden Blätter des in russischer Ueber¬
setzung erschienenen Rituals öffentlich während des Gottesdienstes auf der
Kanzel verbrannt. Er nannte dabei zugleich diejenigen Priester, welche sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/103>, abgerufen am 27.05.2024.