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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Errleben. Im Hintergrunde der patriotischste aller "Patrioten", der "Reichs-
Greil", sonst Lycealprofessor mit hoher weißer Binde, und in jedem Zolle
bayrischer Particularist. Ganz vorn aber, auf ein kleines Tischchen gestützt,
von veränderlichsten Gesichtsausdruck, bald Sturm, bald Regen, bald lachend¬
ster Sonnenschein, unermüdlich umblickend sitzt Windthorst; eine Fraction für
sich, da er sich im Stande fühlt, ebensoviel durch Reden zu leisten als alle
übrigen Klerikalen zusammengenommen. Dicht links vor ihm sitzt Laster, un¬
ablässig die geflügelten Worte der Gegner sich auf kleine Papierstreifen rotirend;
seine Feinde sagen ihm mit Unrecht nach, er spreche nach der Elle. Windt¬
horst aber gleicht einer Jahrmarktsbude die mit allerlei Nürnberger Tand
handelt; jeden Augenblick in jeder Sitzung bei jeder Angelegenheit wirft er
etwas hervor, sei es nun zur Geschäftsordnung oder zur Sache oder persön¬
Z/I. lichen Bemerkung, Man ist niemals sicher vor ihm.




Es ist heute unbestreitbar, daß sich die wichtigste Entwicklung der süd¬
deutschen Staaten nicht mehr in den geographischen Grenzen derselben, son¬
dern im Norden, in der Mitte des Reichstags vollzieht. Allein gleichwohl
sind wir auch hier, in unserem engeren Vaterlande, nicht arm an po¬
litischen Thatsachen, und ' wenn wir für dieselben gerade jetzt eine er¬
höhte Bedeutung in Anspruch nehmen, so geschieht es eben deshalb,
weil die Folgen, die daraus entstehen, nicht mehr von uns allein ge¬
tragen werden, sondern mittelbar auf das Ganze zurückwirken. In diesem
Sinne muß man die Nachwahlen zum Reichstag betrachten, in diesem Sinne
ist die Art und Weise bedeutungsvoll, wie die gebildeten Laien oder wie die
Negierung in Baiern sich zur römischen Frage stellt; Denn aus der Antwort,
die jetzt auf solche Fragen gegeben wird, sind nicht blos die 6 Millionen
betheiligt, welche Baiern bewohnen, sondern die 38 Millionen, die zum deut¬
schen Reiche gehören.

Wir haben im Borhergehenden bereits einzelne Punkte namhaft gemacht,
die als Wegweiser der Richtung, welche die hiesigen Dinge haben, dienen;
im Folgenden möge uns gestattet sein, auf das Einzelne näher einzugehen.

Wir erwähnten oben die Nachwahlen, die in Baiern zur Ergänzung der
Reichstagsabgeordneten stattfanden und in der That dürste sich kaum ein
schlagenderes Argument für die moralischen Eroberungen finden lassen, welche
der nationale Gedanke bei uns gemacht hat. Von den 4 Nachwahlen, die im
Ganzen auf Baiern trafen und sich auf Schwaben, Niederbaiern und Mittel-


Errleben. Im Hintergrunde der patriotischste aller „Patrioten", der „Reichs-
Greil", sonst Lycealprofessor mit hoher weißer Binde, und in jedem Zolle
bayrischer Particularist. Ganz vorn aber, auf ein kleines Tischchen gestützt,
von veränderlichsten Gesichtsausdruck, bald Sturm, bald Regen, bald lachend¬
ster Sonnenschein, unermüdlich umblickend sitzt Windthorst; eine Fraction für
sich, da er sich im Stande fühlt, ebensoviel durch Reden zu leisten als alle
übrigen Klerikalen zusammengenommen. Dicht links vor ihm sitzt Laster, un¬
ablässig die geflügelten Worte der Gegner sich auf kleine Papierstreifen rotirend;
seine Feinde sagen ihm mit Unrecht nach, er spreche nach der Elle. Windt¬
horst aber gleicht einer Jahrmarktsbude die mit allerlei Nürnberger Tand
handelt; jeden Augenblick in jeder Sitzung bei jeder Angelegenheit wirft er
etwas hervor, sei es nun zur Geschäftsordnung oder zur Sache oder persön¬
Z/I. lichen Bemerkung, Man ist niemals sicher vor ihm.




Es ist heute unbestreitbar, daß sich die wichtigste Entwicklung der süd¬
deutschen Staaten nicht mehr in den geographischen Grenzen derselben, son¬
dern im Norden, in der Mitte des Reichstags vollzieht. Allein gleichwohl
sind wir auch hier, in unserem engeren Vaterlande, nicht arm an po¬
litischen Thatsachen, und ' wenn wir für dieselben gerade jetzt eine er¬
höhte Bedeutung in Anspruch nehmen, so geschieht es eben deshalb,
weil die Folgen, die daraus entstehen, nicht mehr von uns allein ge¬
tragen werden, sondern mittelbar auf das Ganze zurückwirken. In diesem
Sinne muß man die Nachwahlen zum Reichstag betrachten, in diesem Sinne
ist die Art und Weise bedeutungsvoll, wie die gebildeten Laien oder wie die
Negierung in Baiern sich zur römischen Frage stellt; Denn aus der Antwort,
die jetzt auf solche Fragen gegeben wird, sind nicht blos die 6 Millionen
betheiligt, welche Baiern bewohnen, sondern die 38 Millionen, die zum deut¬
schen Reiche gehören.

Wir haben im Borhergehenden bereits einzelne Punkte namhaft gemacht,
die als Wegweiser der Richtung, welche die hiesigen Dinge haben, dienen;
im Folgenden möge uns gestattet sein, auf das Einzelne näher einzugehen.

Wir erwähnten oben die Nachwahlen, die in Baiern zur Ergänzung der
Reichstagsabgeordneten stattfanden und in der That dürste sich kaum ein
schlagenderes Argument für die moralischen Eroberungen finden lassen, welche
der nationale Gedanke bei uns gemacht hat. Von den 4 Nachwahlen, die im
Ganzen auf Baiern trafen und sich auf Schwaben, Niederbaiern und Mittel-


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[0156] Errleben. Im Hintergrunde der patriotischste aller „Patrioten", der „Reichs- Greil", sonst Lycealprofessor mit hoher weißer Binde, und in jedem Zolle bayrischer Particularist. Ganz vorn aber, auf ein kleines Tischchen gestützt, von veränderlichsten Gesichtsausdruck, bald Sturm, bald Regen, bald lachend¬ ster Sonnenschein, unermüdlich umblickend sitzt Windthorst; eine Fraction für sich, da er sich im Stande fühlt, ebensoviel durch Reden zu leisten als alle übrigen Klerikalen zusammengenommen. Dicht links vor ihm sitzt Laster, un¬ ablässig die geflügelten Worte der Gegner sich auf kleine Papierstreifen rotirend; seine Feinde sagen ihm mit Unrecht nach, er spreche nach der Elle. Windt¬ horst aber gleicht einer Jahrmarktsbude die mit allerlei Nürnberger Tand handelt; jeden Augenblick in jeder Sitzung bei jeder Angelegenheit wirft er etwas hervor, sei es nun zur Geschäftsordnung oder zur Sache oder persön¬ Z/I. lichen Bemerkung, Man ist niemals sicher vor ihm. Es ist heute unbestreitbar, daß sich die wichtigste Entwicklung der süd¬ deutschen Staaten nicht mehr in den geographischen Grenzen derselben, son¬ dern im Norden, in der Mitte des Reichstags vollzieht. Allein gleichwohl sind wir auch hier, in unserem engeren Vaterlande, nicht arm an po¬ litischen Thatsachen, und ' wenn wir für dieselben gerade jetzt eine er¬ höhte Bedeutung in Anspruch nehmen, so geschieht es eben deshalb, weil die Folgen, die daraus entstehen, nicht mehr von uns allein ge¬ tragen werden, sondern mittelbar auf das Ganze zurückwirken. In diesem Sinne muß man die Nachwahlen zum Reichstag betrachten, in diesem Sinne ist die Art und Weise bedeutungsvoll, wie die gebildeten Laien oder wie die Negierung in Baiern sich zur römischen Frage stellt; Denn aus der Antwort, die jetzt auf solche Fragen gegeben wird, sind nicht blos die 6 Millionen betheiligt, welche Baiern bewohnen, sondern die 38 Millionen, die zum deut¬ schen Reiche gehören. Wir haben im Borhergehenden bereits einzelne Punkte namhaft gemacht, die als Wegweiser der Richtung, welche die hiesigen Dinge haben, dienen; im Folgenden möge uns gestattet sein, auf das Einzelne näher einzugehen. Wir erwähnten oben die Nachwahlen, die in Baiern zur Ergänzung der Reichstagsabgeordneten stattfanden und in der That dürste sich kaum ein schlagenderes Argument für die moralischen Eroberungen finden lassen, welche der nationale Gedanke bei uns gemacht hat. Von den 4 Nachwahlen, die im Ganzen auf Baiern trafen und sich auf Schwaben, Niederbaiern und Mittel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/156>, abgerufen am 30.04.2024.