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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Dom deutschen Ieichstag"

Mein letzter Bericht gab einigen Bedenken Ausdruck über die Amendirung,
welche der Gesetzentwurf in Betreff Elsaß-Lothringens durch die Reichstags¬
commission erfahren. Die Vorgänge dieser Woche haben nur zu sehr bestätigt,
daß die Commission bei der Verbesserung des Entwurfes keine glückliche Hand
gehabt. Am 25. Mai wies der Reichskanzler in längerer Rede zwei Be¬
stimmungen zurück, welche die Commission dem Entwurf gegeben. Erstens die
Verkürzung der Alleinvollmacht für Kaiser und Bundesrath vom 1. Januar
1874 auf den 1. Januar 1873. Zweitens die Gebundenheit von Kaiser und
Bundesrat!) an die Zustimmung des Reichstages bei etwaiger Contrahirung
von Schulden auch während des Provisoriums.

Daß die Verkürzung des Provisoriums sehr unzweckmäßig ist, darin wird
man dem Reichskanzler unbedingt beipflichten müssen. Welchen andern Zweck
hat ein solches Provisorium, als den, daß die Acte der Constituirung einer
neuen Provinz erperimentirend ausgeübt werden können, so daß der oder jener
Schritt allenfalls sich schnell zurücknehmen läßt? Welchen Zweck ferner als
den eingreifenden Beschlüssen, die vielleicht den neuen Neichsbürgern nicht
erwünscht und dennoch unvermeidlich sind, den Eindruck unbeugsamen
Willens durch eine vorhergehende öffentliche Debatte, die alle Meinungsver¬
schiedenheiten und schwankenden Urtheile an den Tag bringt, zu rauben? Ein
und ein halbes Jahr aber als Maximaldauer des Provisoriums sind ohne
Widerrede viel zu kurz, um zu verbürgen, daß das Provisorium seinen Zweck
erfüllt. Höchst unglücklich ist auch die Idee, die Einwohner von Elsaß-Loth¬
ringen im Jahr 1873 allein für den Reichstag wählen zu lassen, und 1874,
wo die Wahlperiode des jetzigen Reichstags abläuft, sogleich wieder. Viel zu
kurz ist endlich der Termin bis zum 1. Januar 1873, um die nöthige Grund¬
lage gewonnen zu haben zur Abänderung der Reichsverfassung, welche durch
die definitive Constituirung von Elsaß-Lothringen etwa nöthig werden kann.

Auch in dem zweiten Punkt, welcher den Widerspruch des Reichskanzlers
fand, wird man sich nicht auf Seite der Reichstagscommission stellen können.
Wenn die provisorische Regierungsgewalt für Elsaß-Lothringen nicht befugt
ist, mit einer Provinzialvertretung, welche sie etwa einführt, Provinzialschulden
aufzunehmen, wenn sie statt dessen genöthigt ist , für jede kleinere oder größere
Summe, welche die Provinz sehr wohl aufnehmen könnte und sehr gern auf¬
nehmen würde, die Zustimmung des Reichstags nachzusuchen, so fällt die
Möglichkeit weg, die Provinz ohne die Mitwirkung des Reichstags zu orga-
nisiren, vorbehaltlich dessen einstiger Zustimmung, während doch das Provi¬
sorium diese Möglichkeit gewähren soll.


Dom deutschen Ieichstag»

Mein letzter Bericht gab einigen Bedenken Ausdruck über die Amendirung,
welche der Gesetzentwurf in Betreff Elsaß-Lothringens durch die Reichstags¬
commission erfahren. Die Vorgänge dieser Woche haben nur zu sehr bestätigt,
daß die Commission bei der Verbesserung des Entwurfes keine glückliche Hand
gehabt. Am 25. Mai wies der Reichskanzler in längerer Rede zwei Be¬
stimmungen zurück, welche die Commission dem Entwurf gegeben. Erstens die
Verkürzung der Alleinvollmacht für Kaiser und Bundesrath vom 1. Januar
1874 auf den 1. Januar 1873. Zweitens die Gebundenheit von Kaiser und
Bundesrat!) an die Zustimmung des Reichstages bei etwaiger Contrahirung
von Schulden auch während des Provisoriums.

Daß die Verkürzung des Provisoriums sehr unzweckmäßig ist, darin wird
man dem Reichskanzler unbedingt beipflichten müssen. Welchen andern Zweck
hat ein solches Provisorium, als den, daß die Acte der Constituirung einer
neuen Provinz erperimentirend ausgeübt werden können, so daß der oder jener
Schritt allenfalls sich schnell zurücknehmen läßt? Welchen Zweck ferner als
den eingreifenden Beschlüssen, die vielleicht den neuen Neichsbürgern nicht
erwünscht und dennoch unvermeidlich sind, den Eindruck unbeugsamen
Willens durch eine vorhergehende öffentliche Debatte, die alle Meinungsver¬
schiedenheiten und schwankenden Urtheile an den Tag bringt, zu rauben? Ein
und ein halbes Jahr aber als Maximaldauer des Provisoriums sind ohne
Widerrede viel zu kurz, um zu verbürgen, daß das Provisorium seinen Zweck
erfüllt. Höchst unglücklich ist auch die Idee, die Einwohner von Elsaß-Loth¬
ringen im Jahr 1873 allein für den Reichstag wählen zu lassen, und 1874,
wo die Wahlperiode des jetzigen Reichstags abläuft, sogleich wieder. Viel zu
kurz ist endlich der Termin bis zum 1. Januar 1873, um die nöthige Grund¬
lage gewonnen zu haben zur Abänderung der Reichsverfassung, welche durch
die definitive Constituirung von Elsaß-Lothringen etwa nöthig werden kann.

Auch in dem zweiten Punkt, welcher den Widerspruch des Reichskanzlers
fand, wird man sich nicht auf Seite der Reichstagscommission stellen können.
Wenn die provisorische Regierungsgewalt für Elsaß-Lothringen nicht befugt
ist, mit einer Provinzialvertretung, welche sie etwa einführt, Provinzialschulden
aufzunehmen, wenn sie statt dessen genöthigt ist , für jede kleinere oder größere
Summe, welche die Provinz sehr wohl aufnehmen könnte und sehr gern auf¬
nehmen würde, die Zustimmung des Reichstags nachzusuchen, so fällt die
Möglichkeit weg, die Provinz ohne die Mitwirkung des Reichstags zu orga-
nisiren, vorbehaltlich dessen einstiger Zustimmung, während doch das Provi¬
sorium diese Möglichkeit gewähren soll.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/392>, abgerufen am 30.04.2024.