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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band.

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Als der Reichskanzler seinen Widerspruch gegen diese beiden Punkte dar¬
legte, war der Reichstag bei der dritten Lesung und durch eine einmalige Ab¬
stimmung bei der zweiten Lesung an die fraglichen, Abstimmungen gebun¬
den, soweit eine einmalige, nicht definitive Abstimmung überhaupt bindet. Die
erste Lesung hatte, wie man sich erinnert, nur dazu gedient, den Entwurf av
eine Commission zu verweisen.

Für die immerhin verspätete Erhebung seines Widerspruchs war der
Kanzler vollgültig gerechtfertigt durch seine Reise nach Frankfurt, wo er das
verdienstlichste Geschäft für das Reich mit dem bekannten schnellen Erfolg voll¬
führt hatte. Es konnte also im Grunde dem Reichstag nicht schwer fallen,
bei dem Gewicht, welches die große Mehrzahl desselben nach oft wiederholten
Versicherungen der Stimme des Reichskanzlers gern einräumt, eine Aenderung
der fraglichen Punkte noch bei der dritten Lesung auf den Wunsch des Kanz¬
lers vorzunehmen. Ein solcher Schritt mußte um so leichter erscheinen, als
die genannten Bestimmungen zwar für den Reichskanzler sehr lästig sind, aber
darum die Bedeutung des Reichstags weder erhöhen noch bewahren. Es
scheint jedoch, als ob der Reichskanzler bei der Begründung seines Wunsches
das sug-piter lo inoäo, kvrtite-r in re, das er gern als Maxime betont, nicht
völlig getroffen habe. Die Reichstagsmehrheit fühlte sich durch die Bezeich¬
nung jener Beschlüsse als Mißtrauensvotum augenscheinlich verletzt; trotzdem
gelang die Zurückverweisung des Gesetzentwurfs an die Commission.

Die Commission hielt noch am Abend desselben Tages, des 26. Mai,
eine bis nach Mitternacht dauernde Sitzung, an welcher der Reichskanzler
Theil nahm. Das Ergebniß derselben war, daß die Commission den Ablauf
des Provisoriums am 1. Januar 1873 festgehalten hat; daß dagegen an
Stelle der Bestimmung, daß alle Schulden, welche für Elsaß-Lothringen
etwa contrahirt werden, der Zustimmung des Reichstags bedürfen, dies nur
von denjenigen gilt, welche das Reich belasten. In dieser Fassung ist die
Bestimmung zwar überflüssig, aber unschädlich. Das Erstere, weil Reichs¬
schulden selbstverständlich nur unter Mitwirkung des Reichstags gültig con¬
trahirt werden können. Diese Fassung ist vom Reichskanzler ausdrücklich in
der Commissionssitzung als annehmbar bezeichnet worden. Dagegen erhellt
nicht deutlich, wie sich der Kanzler zu dem festgehaltenen Termin des 1. Januar
1873 endgültig stellen wird. Weist er diesen Termin im Plenum nochmals
zurück, und sollte die Reichstagsmehrheit, wie die Commission gethan hat,
an demselben dennoch festhalten, so dürfte der Gesetzentwurf in der jetzigen
Session scheitern, womit co ipso die Reichsregierung, d. i. Kaiser und Bundes¬
rat!), bis zur gesetzlichen Vereinigung der gewonnenen Landschaften mit dem
deutschen Reich, einstweilen in die vollen Rechte des Besitzers treten. Es ist
indeß zu hoffen, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen Kanzler und Reichs-


Grmzbote" I. 1b7U l^g

Als der Reichskanzler seinen Widerspruch gegen diese beiden Punkte dar¬
legte, war der Reichstag bei der dritten Lesung und durch eine einmalige Ab¬
stimmung bei der zweiten Lesung an die fraglichen, Abstimmungen gebun¬
den, soweit eine einmalige, nicht definitive Abstimmung überhaupt bindet. Die
erste Lesung hatte, wie man sich erinnert, nur dazu gedient, den Entwurf av
eine Commission zu verweisen.

Für die immerhin verspätete Erhebung seines Widerspruchs war der
Kanzler vollgültig gerechtfertigt durch seine Reise nach Frankfurt, wo er das
verdienstlichste Geschäft für das Reich mit dem bekannten schnellen Erfolg voll¬
führt hatte. Es konnte also im Grunde dem Reichstag nicht schwer fallen,
bei dem Gewicht, welches die große Mehrzahl desselben nach oft wiederholten
Versicherungen der Stimme des Reichskanzlers gern einräumt, eine Aenderung
der fraglichen Punkte noch bei der dritten Lesung auf den Wunsch des Kanz¬
lers vorzunehmen. Ein solcher Schritt mußte um so leichter erscheinen, als
die genannten Bestimmungen zwar für den Reichskanzler sehr lästig sind, aber
darum die Bedeutung des Reichstags weder erhöhen noch bewahren. Es
scheint jedoch, als ob der Reichskanzler bei der Begründung seines Wunsches
das sug-piter lo inoäo, kvrtite-r in re, das er gern als Maxime betont, nicht
völlig getroffen habe. Die Reichstagsmehrheit fühlte sich durch die Bezeich¬
nung jener Beschlüsse als Mißtrauensvotum augenscheinlich verletzt; trotzdem
gelang die Zurückverweisung des Gesetzentwurfs an die Commission.

Die Commission hielt noch am Abend desselben Tages, des 26. Mai,
eine bis nach Mitternacht dauernde Sitzung, an welcher der Reichskanzler
Theil nahm. Das Ergebniß derselben war, daß die Commission den Ablauf
des Provisoriums am 1. Januar 1873 festgehalten hat; daß dagegen an
Stelle der Bestimmung, daß alle Schulden, welche für Elsaß-Lothringen
etwa contrahirt werden, der Zustimmung des Reichstags bedürfen, dies nur
von denjenigen gilt, welche das Reich belasten. In dieser Fassung ist die
Bestimmung zwar überflüssig, aber unschädlich. Das Erstere, weil Reichs¬
schulden selbstverständlich nur unter Mitwirkung des Reichstags gültig con¬
trahirt werden können. Diese Fassung ist vom Reichskanzler ausdrücklich in
der Commissionssitzung als annehmbar bezeichnet worden. Dagegen erhellt
nicht deutlich, wie sich der Kanzler zu dem festgehaltenen Termin des 1. Januar
1873 endgültig stellen wird. Weist er diesen Termin im Plenum nochmals
zurück, und sollte die Reichstagsmehrheit, wie die Commission gethan hat,
an demselben dennoch festhalten, so dürfte der Gesetzentwurf in der jetzigen
Session scheitern, womit co ipso die Reichsregierung, d. i. Kaiser und Bundes¬
rat!), bis zur gesetzlichen Vereinigung der gewonnenen Landschaften mit dem
deutschen Reich, einstweilen in die vollen Rechte des Besitzers treten. Es ist
indeß zu hoffen, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen Kanzler und Reichs-


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[0393] Als der Reichskanzler seinen Widerspruch gegen diese beiden Punkte dar¬ legte, war der Reichstag bei der dritten Lesung und durch eine einmalige Ab¬ stimmung bei der zweiten Lesung an die fraglichen, Abstimmungen gebun¬ den, soweit eine einmalige, nicht definitive Abstimmung überhaupt bindet. Die erste Lesung hatte, wie man sich erinnert, nur dazu gedient, den Entwurf av eine Commission zu verweisen. Für die immerhin verspätete Erhebung seines Widerspruchs war der Kanzler vollgültig gerechtfertigt durch seine Reise nach Frankfurt, wo er das verdienstlichste Geschäft für das Reich mit dem bekannten schnellen Erfolg voll¬ führt hatte. Es konnte also im Grunde dem Reichstag nicht schwer fallen, bei dem Gewicht, welches die große Mehrzahl desselben nach oft wiederholten Versicherungen der Stimme des Reichskanzlers gern einräumt, eine Aenderung der fraglichen Punkte noch bei der dritten Lesung auf den Wunsch des Kanz¬ lers vorzunehmen. Ein solcher Schritt mußte um so leichter erscheinen, als die genannten Bestimmungen zwar für den Reichskanzler sehr lästig sind, aber darum die Bedeutung des Reichstags weder erhöhen noch bewahren. Es scheint jedoch, als ob der Reichskanzler bei der Begründung seines Wunsches das sug-piter lo inoäo, kvrtite-r in re, das er gern als Maxime betont, nicht völlig getroffen habe. Die Reichstagsmehrheit fühlte sich durch die Bezeich¬ nung jener Beschlüsse als Mißtrauensvotum augenscheinlich verletzt; trotzdem gelang die Zurückverweisung des Gesetzentwurfs an die Commission. Die Commission hielt noch am Abend desselben Tages, des 26. Mai, eine bis nach Mitternacht dauernde Sitzung, an welcher der Reichskanzler Theil nahm. Das Ergebniß derselben war, daß die Commission den Ablauf des Provisoriums am 1. Januar 1873 festgehalten hat; daß dagegen an Stelle der Bestimmung, daß alle Schulden, welche für Elsaß-Lothringen etwa contrahirt werden, der Zustimmung des Reichstags bedürfen, dies nur von denjenigen gilt, welche das Reich belasten. In dieser Fassung ist die Bestimmung zwar überflüssig, aber unschädlich. Das Erstere, weil Reichs¬ schulden selbstverständlich nur unter Mitwirkung des Reichstags gültig con¬ trahirt werden können. Diese Fassung ist vom Reichskanzler ausdrücklich in der Commissionssitzung als annehmbar bezeichnet worden. Dagegen erhellt nicht deutlich, wie sich der Kanzler zu dem festgehaltenen Termin des 1. Januar 1873 endgültig stellen wird. Weist er diesen Termin im Plenum nochmals zurück, und sollte die Reichstagsmehrheit, wie die Commission gethan hat, an demselben dennoch festhalten, so dürfte der Gesetzentwurf in der jetzigen Session scheitern, womit co ipso die Reichsregierung, d. i. Kaiser und Bundes¬ rat!), bis zur gesetzlichen Vereinigung der gewonnenen Landschaften mit dem deutschen Reich, einstweilen in die vollen Rechte des Besitzers treten. Es ist indeß zu hoffen, daß die Meinungsverschiedenheit zwischen Kanzler und Reichs- Grmzbote» I. 1b7U l^g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125781/393>, abgerufen am 21.05.2024.