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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Dom deutschen Keichstag.

Drei Sitzungen des Reichstages endeten damit, die Beschlußunfähigkeit
der höchsten deutschen Körperschaft an den Tag zu bringen. Erst in der
vierten Sitzung konnte die hohe Versammlung ihre Arbeiten aufnehmen und
in der fünften zur Wahl ihres Vorstandes schreiten. Das geringe Pflicht¬
gefühl, welches viele Reichstags-Mitglieder dieser Erfahrung zufolge für ihren
wichtigen Beruf an den Tag legen, hat nicht wenig Befremdung und vieler-
seits sogar lebhaftes Mißfallen hervorgerufen. Aus Reichstagskreisen wird
hier und da zur Entschuldigung ein Vorwurf gegen die Negierung geltend
gemacht. Man sagt, die Negierung habe versäumt, von dem ungefähren
Zeitpunkt der Reichstags-Eröffnung die Abgeordneten einigermaßen früh zu
verständigen. Acht Tage seien nicht ausreichend für die Abgeordneten, sich
von ihren mannigfaltigen anderen Geschäften und Pflichten frei zu machen.
Die Berufung des Reichstages auf den 16. October erfolgte bekanntlich durch
kaiserliches Decret vom ü. desselben Monats, welches der Reichsanzeiger am
7. October Abends veröffentlichte.

Indessen muß doch bemerkt werden, daß Jedermann in Deutschland seit
Monaten wußte, der Reichstag werde im October zusammentreten. In der
ganz genauen Bestimmung des Eröffnungstages hängt die Reichsregierung
selbst, die ja nicht allmächtig ist, von mancherlei nicht vorherzusehenden Um¬
ständen ab. Uns dünkt, wer einen hohen Beruf für das Vaterland über¬
nimmt, unterwirft sich damit auch der Nothwendigkeit, der Forderung dieses
Berufs zu unvorhergesehener Frist gewärtig zu sein.

Doch wollen wir denjenigen Mitgliedern, welche durch ihr verspätetes
Erscheinen den Versuch des Reichstags, seine Geschäfte aufzunehmen, drei
Mal vereitelten, gern jeden Vorwurf ersparen. Dagegen vermögen wir nicht
einzusehen, weßhalb ein Theil der liberalen Partei sich so heftig dagegen
wehrt, die zur Beschlußfähigkeit des Hauses erforderliche Mitgliederzahl herab¬
zusetzen. Das englische Unterhaus zählt ungefähr 600 Mitglieder und die
Anwesenheit von 40 reicht zur Beschlußfähigkeit hin. Man sagt nun, das
passe für England, aber nicht für Deutschland; in Deutschland würde
das Ansehen des Reichstages unter der geringen Fülle seiner Versamm¬
lungen leiden.

Dies ist eine Behauptung, für die es gar keinen Grund gibt, den man
sich denn auch hütet, beibringen zu wollen. Es gibt ja Dinge, die nur
darum unbeweisbar sind, weil sie sich von selbst verstehen. Da ist es denn kein


Dom deutschen Keichstag.

Drei Sitzungen des Reichstages endeten damit, die Beschlußunfähigkeit
der höchsten deutschen Körperschaft an den Tag zu bringen. Erst in der
vierten Sitzung konnte die hohe Versammlung ihre Arbeiten aufnehmen und
in der fünften zur Wahl ihres Vorstandes schreiten. Das geringe Pflicht¬
gefühl, welches viele Reichstags-Mitglieder dieser Erfahrung zufolge für ihren
wichtigen Beruf an den Tag legen, hat nicht wenig Befremdung und vieler-
seits sogar lebhaftes Mißfallen hervorgerufen. Aus Reichstagskreisen wird
hier und da zur Entschuldigung ein Vorwurf gegen die Negierung geltend
gemacht. Man sagt, die Negierung habe versäumt, von dem ungefähren
Zeitpunkt der Reichstags-Eröffnung die Abgeordneten einigermaßen früh zu
verständigen. Acht Tage seien nicht ausreichend für die Abgeordneten, sich
von ihren mannigfaltigen anderen Geschäften und Pflichten frei zu machen.
Die Berufung des Reichstages auf den 16. October erfolgte bekanntlich durch
kaiserliches Decret vom ü. desselben Monats, welches der Reichsanzeiger am
7. October Abends veröffentlichte.

Indessen muß doch bemerkt werden, daß Jedermann in Deutschland seit
Monaten wußte, der Reichstag werde im October zusammentreten. In der
ganz genauen Bestimmung des Eröffnungstages hängt die Reichsregierung
selbst, die ja nicht allmächtig ist, von mancherlei nicht vorherzusehenden Um¬
ständen ab. Uns dünkt, wer einen hohen Beruf für das Vaterland über¬
nimmt, unterwirft sich damit auch der Nothwendigkeit, der Forderung dieses
Berufs zu unvorhergesehener Frist gewärtig zu sein.

Doch wollen wir denjenigen Mitgliedern, welche durch ihr verspätetes
Erscheinen den Versuch des Reichstags, seine Geschäfte aufzunehmen, drei
Mal vereitelten, gern jeden Vorwurf ersparen. Dagegen vermögen wir nicht
einzusehen, weßhalb ein Theil der liberalen Partei sich so heftig dagegen
wehrt, die zur Beschlußfähigkeit des Hauses erforderliche Mitgliederzahl herab¬
zusetzen. Das englische Unterhaus zählt ungefähr 600 Mitglieder und die
Anwesenheit von 40 reicht zur Beschlußfähigkeit hin. Man sagt nun, das
passe für England, aber nicht für Deutschland; in Deutschland würde
das Ansehen des Reichstages unter der geringen Fülle seiner Versamm¬
lungen leiden.

Dies ist eine Behauptung, für die es gar keinen Grund gibt, den man
sich denn auch hütet, beibringen zu wollen. Es gibt ja Dinge, die nur
darum unbeweisbar sind, weil sie sich von selbst verstehen. Da ist es denn kein


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[0162] Dom deutschen Keichstag. Drei Sitzungen des Reichstages endeten damit, die Beschlußunfähigkeit der höchsten deutschen Körperschaft an den Tag zu bringen. Erst in der vierten Sitzung konnte die hohe Versammlung ihre Arbeiten aufnehmen und in der fünften zur Wahl ihres Vorstandes schreiten. Das geringe Pflicht¬ gefühl, welches viele Reichstags-Mitglieder dieser Erfahrung zufolge für ihren wichtigen Beruf an den Tag legen, hat nicht wenig Befremdung und vieler- seits sogar lebhaftes Mißfallen hervorgerufen. Aus Reichstagskreisen wird hier und da zur Entschuldigung ein Vorwurf gegen die Negierung geltend gemacht. Man sagt, die Negierung habe versäumt, von dem ungefähren Zeitpunkt der Reichstags-Eröffnung die Abgeordneten einigermaßen früh zu verständigen. Acht Tage seien nicht ausreichend für die Abgeordneten, sich von ihren mannigfaltigen anderen Geschäften und Pflichten frei zu machen. Die Berufung des Reichstages auf den 16. October erfolgte bekanntlich durch kaiserliches Decret vom ü. desselben Monats, welches der Reichsanzeiger am 7. October Abends veröffentlichte. Indessen muß doch bemerkt werden, daß Jedermann in Deutschland seit Monaten wußte, der Reichstag werde im October zusammentreten. In der ganz genauen Bestimmung des Eröffnungstages hängt die Reichsregierung selbst, die ja nicht allmächtig ist, von mancherlei nicht vorherzusehenden Um¬ ständen ab. Uns dünkt, wer einen hohen Beruf für das Vaterland über¬ nimmt, unterwirft sich damit auch der Nothwendigkeit, der Forderung dieses Berufs zu unvorhergesehener Frist gewärtig zu sein. Doch wollen wir denjenigen Mitgliedern, welche durch ihr verspätetes Erscheinen den Versuch des Reichstags, seine Geschäfte aufzunehmen, drei Mal vereitelten, gern jeden Vorwurf ersparen. Dagegen vermögen wir nicht einzusehen, weßhalb ein Theil der liberalen Partei sich so heftig dagegen wehrt, die zur Beschlußfähigkeit des Hauses erforderliche Mitgliederzahl herab¬ zusetzen. Das englische Unterhaus zählt ungefähr 600 Mitglieder und die Anwesenheit von 40 reicht zur Beschlußfähigkeit hin. Man sagt nun, das passe für England, aber nicht für Deutschland; in Deutschland würde das Ansehen des Reichstages unter der geringen Fülle seiner Versamm¬ lungen leiden. Dies ist eine Behauptung, für die es gar keinen Grund gibt, den man sich denn auch hütet, beibringen zu wollen. Es gibt ja Dinge, die nur darum unbeweisbar sind, weil sie sich von selbst verstehen. Da ist es denn kein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/162>, abgerufen am 08.05.2024.