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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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dem Hervenhause behafteten Gesetzgebungs-Fabrik in Berlin aufrechterhalten?
Sachliche Gründe sind dafür nicht beizutreiben. Vielmehr ließe sich recht gut
denken, daß das Reich mit der Zeit dem Staate Preußen die Aufstellung der
allgemeinen wegerechtlichen Grundsätze vollständig abnähme, damit dieselben
gleich durch ganz Deutschland übereinstimmend gälten, und der Nest der Ma¬
terie in Preußen den Provinzen anheimfiele, wie anderswo dem Einzelstaat,
nachdem alle preußischen Provinzen ihre Dotationen erhalten, sich verwaltungs¬
fähig organisirt und das erforderliche technische Corps zugelegt haben. Aber
da diese Maßregel innerhalb Preußens doch nothwendig vorausgehen muß
und das Land schwerlich so lange auf ein verbessertes Wegerecht wird warten
wollen, nachdem die Kreisordnung erlassen sein wird, so wäre die Adresse für
Neformanliegen zunächst immerhin richtiger noch der Einzelstaat. Daß mit
diesem der Congreß deutscher Landwirthe unter keinen Umständen etwas zu
thun haben könne, vermögen wir dem Berichterstatter seiner Wegerechts-Com-
mission von 1870/72 nicht zuzugestehen.


August Lammers.


Die Mumngen und das neue Deutschland.

Belgien hat jetzt ein Jahr lang Zeit gehabt, sich darüber zu entscheiden,
in welcher politischen Richtung es fürderhin steuern will. Die vielgerühmte
Neutralität ist doch nur Chimäre, und hier sieht man auch allmälig ein, daß
man nicht allzusehr auf Englands Schutz und actives Eingreifen rechnen darf,
falls Belgien bei einem neuen deutsch-französischen Kriege in Mitleidenschaft
gezogen werden sollte. Geographisch wie ethnographisch zwischen den beiden
großen Nachbarreichen mitten inne liegend, hat es' sich nach der einen oder
anderen Seite zu entscheiden, denn die schöne Phrase von einer "geistigen Ver¬
mittlerrolle", die man auch auf die Elsässer anwandte, hat sich doch nicht als
stichhaltig erwiesen. So sehr nun auch Frankreich gedemüthigt wurde, so
offenkundig dessen Annexionspläne waren, man ist in den herrschenden Kreisen
nicht gewitzigt und neigt mehr und mehr dem südlichen Nachbar zu, dessen
schimmernde äußere Eigenschaften so sehr blenden und der mehr und mehr
Brüssel zu einem Pariser Faubourg gestaltet. Die Presse, das heißt die
große, französisch geschriebene, fährt nach wie vor im gallischen Fahrwasser mit
vollen Segeln, und das ist nicht mehr als natürlich, da sie ja von Pariser
Journalisten bedient wird. Nach dieser Presse beurtheilt man auch die Stim¬
mung der Belgier im Auslande. Wie selten vernimmt man dagegen dort


dem Hervenhause behafteten Gesetzgebungs-Fabrik in Berlin aufrechterhalten?
Sachliche Gründe sind dafür nicht beizutreiben. Vielmehr ließe sich recht gut
denken, daß das Reich mit der Zeit dem Staate Preußen die Aufstellung der
allgemeinen wegerechtlichen Grundsätze vollständig abnähme, damit dieselben
gleich durch ganz Deutschland übereinstimmend gälten, und der Nest der Ma¬
terie in Preußen den Provinzen anheimfiele, wie anderswo dem Einzelstaat,
nachdem alle preußischen Provinzen ihre Dotationen erhalten, sich verwaltungs¬
fähig organisirt und das erforderliche technische Corps zugelegt haben. Aber
da diese Maßregel innerhalb Preußens doch nothwendig vorausgehen muß
und das Land schwerlich so lange auf ein verbessertes Wegerecht wird warten
wollen, nachdem die Kreisordnung erlassen sein wird, so wäre die Adresse für
Neformanliegen zunächst immerhin richtiger noch der Einzelstaat. Daß mit
diesem der Congreß deutscher Landwirthe unter keinen Umständen etwas zu
thun haben könne, vermögen wir dem Berichterstatter seiner Wegerechts-Com-
mission von 1870/72 nicht zuzugestehen.


August Lammers.


Die Mumngen und das neue Deutschland.

Belgien hat jetzt ein Jahr lang Zeit gehabt, sich darüber zu entscheiden,
in welcher politischen Richtung es fürderhin steuern will. Die vielgerühmte
Neutralität ist doch nur Chimäre, und hier sieht man auch allmälig ein, daß
man nicht allzusehr auf Englands Schutz und actives Eingreifen rechnen darf,
falls Belgien bei einem neuen deutsch-französischen Kriege in Mitleidenschaft
gezogen werden sollte. Geographisch wie ethnographisch zwischen den beiden
großen Nachbarreichen mitten inne liegend, hat es' sich nach der einen oder
anderen Seite zu entscheiden, denn die schöne Phrase von einer „geistigen Ver¬
mittlerrolle", die man auch auf die Elsässer anwandte, hat sich doch nicht als
stichhaltig erwiesen. So sehr nun auch Frankreich gedemüthigt wurde, so
offenkundig dessen Annexionspläne waren, man ist in den herrschenden Kreisen
nicht gewitzigt und neigt mehr und mehr dem südlichen Nachbar zu, dessen
schimmernde äußere Eigenschaften so sehr blenden und der mehr und mehr
Brüssel zu einem Pariser Faubourg gestaltet. Die Presse, das heißt die
große, französisch geschriebene, fährt nach wie vor im gallischen Fahrwasser mit
vollen Segeln, und das ist nicht mehr als natürlich, da sie ja von Pariser
Journalisten bedient wird. Nach dieser Presse beurtheilt man auch die Stim¬
mung der Belgier im Auslande. Wie selten vernimmt man dagegen dort


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[0368] dem Hervenhause behafteten Gesetzgebungs-Fabrik in Berlin aufrechterhalten? Sachliche Gründe sind dafür nicht beizutreiben. Vielmehr ließe sich recht gut denken, daß das Reich mit der Zeit dem Staate Preußen die Aufstellung der allgemeinen wegerechtlichen Grundsätze vollständig abnähme, damit dieselben gleich durch ganz Deutschland übereinstimmend gälten, und der Nest der Ma¬ terie in Preußen den Provinzen anheimfiele, wie anderswo dem Einzelstaat, nachdem alle preußischen Provinzen ihre Dotationen erhalten, sich verwaltungs¬ fähig organisirt und das erforderliche technische Corps zugelegt haben. Aber da diese Maßregel innerhalb Preußens doch nothwendig vorausgehen muß und das Land schwerlich so lange auf ein verbessertes Wegerecht wird warten wollen, nachdem die Kreisordnung erlassen sein wird, so wäre die Adresse für Neformanliegen zunächst immerhin richtiger noch der Einzelstaat. Daß mit diesem der Congreß deutscher Landwirthe unter keinen Umständen etwas zu thun haben könne, vermögen wir dem Berichterstatter seiner Wegerechts-Com- mission von 1870/72 nicht zuzugestehen. August Lammers. Die Mumngen und das neue Deutschland. Belgien hat jetzt ein Jahr lang Zeit gehabt, sich darüber zu entscheiden, in welcher politischen Richtung es fürderhin steuern will. Die vielgerühmte Neutralität ist doch nur Chimäre, und hier sieht man auch allmälig ein, daß man nicht allzusehr auf Englands Schutz und actives Eingreifen rechnen darf, falls Belgien bei einem neuen deutsch-französischen Kriege in Mitleidenschaft gezogen werden sollte. Geographisch wie ethnographisch zwischen den beiden großen Nachbarreichen mitten inne liegend, hat es' sich nach der einen oder anderen Seite zu entscheiden, denn die schöne Phrase von einer „geistigen Ver¬ mittlerrolle", die man auch auf die Elsässer anwandte, hat sich doch nicht als stichhaltig erwiesen. So sehr nun auch Frankreich gedemüthigt wurde, so offenkundig dessen Annexionspläne waren, man ist in den herrschenden Kreisen nicht gewitzigt und neigt mehr und mehr dem südlichen Nachbar zu, dessen schimmernde äußere Eigenschaften so sehr blenden und der mehr und mehr Brüssel zu einem Pariser Faubourg gestaltet. Die Presse, das heißt die große, französisch geschriebene, fährt nach wie vor im gallischen Fahrwasser mit vollen Segeln, und das ist nicht mehr als natürlich, da sie ja von Pariser Journalisten bedient wird. Nach dieser Presse beurtheilt man auch die Stim¬ mung der Belgier im Auslande. Wie selten vernimmt man dagegen dort

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/368>, abgerufen am 07.05.2024.