Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
^Mische Jaljresrechmmg in Aayern.

Es geht im Leben eines Volkes, wie im Leben des Einzelnen. Der stille
mühevolle Fleiß, in dem sich große Errungenschaften vorbereiten, dauert Jahre
und Jahre lang, die in scheinbarer Unfruchtbarkeit, freudlos und erfolglos
verstreichen -- dann aber, wenn das Maß der Mühen erfüllt ist, dann drän¬
gen sich die großen Entscheidungen mit plötzlicher Raschheit, dann kommt
Glück über Glück und Erfolg auf Erfolg. Es ist als sollten wir in einem
Jahre das Streben von Jahrzehnten verwirklichen, als sollte die Gegenwart
uns mit einemmal Alles das einlösen, was die Vergangenheit uns schuldig
blieb. So mag das deutsche Volk über seine Errungenschaften denken, wenn
es an der Wende dieses Jahres zurückschaut; kein Stamm von all den vielen
wird sein, dessen ferne Wünsche nicht erfüllt oder überholt wären. Aber nicht
für alle war der Weg gleich weit, nicht bei allen ist der Gegensatz zwischen
dem, was sie einst bedeutet haben und was sie nun bedeuten, derselbe. Denn
im Norden war der Einheitsgedanke schon lange lebendig, während die süd¬
deutschen Staaten noch in der Jsolirung ihre Größe suchten; die Entwicklung
aller inneren Verhältnisse, die Tendenzen der Regierung und die Meinung
des Volkes stützten sich geradezu auf diesen Gegensatz. Man hat die Schwa¬
ben stetH als den zähesten Stamm im Reiche hingestellt und das mag viel¬
leicht culturgeschichtlich begründet sein, allein politisch, staatlich genommen
war es entschieden Bayern, wo die centrifugalen Bestrebungen ihren Höhe¬
punkt erreichten. Sie wurden durch die Traditionen getragen, welche die
Wittelsbach'sche Dynastie seit der Schlacht am Weißen Berge übernommen
hatte, und durch alle erdenklichen Vorurtheile von geistlicher Seite genährt.
Jedes mißliche Geschick das über Bayern kam, ward in diesem Geiste ausge¬
beutet und wo es an passenden Gründen fehlte, wurden Gründe erfunden.
Der Zweck heiligt ja die Mittel, und den Meistern dieser Lehre war Alles
daran gelegen, Bayern in schroffem Gegensatz zum protestantischen Norden
zu erhalten. Die Institutionen des Landes, die insbesondere vor 1848 ein
specifisch particularistisches Gepräge trugen, begünstigten diese Sonderstellung,
indem sie das Land mit einer bureaukratischen Dornenhecke umgaben; die
Elemente, die einer nationalen Bewegung die Hand boten, waren numerisch
zu gering und vermochten dem eingebornen gros nicht zu widerstehen. Dazu
kam, daß die sterile Neactionsperiode der fünfziger Jahre auch nicht ein histo¬
risches Moment in sich schloß, aus dem ein nationaler Aufschwung hätte er¬
blühen können, an das die deutsche Begeisterung anzuknüpfen im Stande ge¬
wesen wäre. Von dieser Gestaltung der Dinge bis zur Gemeinschaft des
deutschen Reiches war allerdings ein weiter Weg. Und dennoch blieb Bayern


^Mische Jaljresrechmmg in Aayern.

Es geht im Leben eines Volkes, wie im Leben des Einzelnen. Der stille
mühevolle Fleiß, in dem sich große Errungenschaften vorbereiten, dauert Jahre
und Jahre lang, die in scheinbarer Unfruchtbarkeit, freudlos und erfolglos
verstreichen — dann aber, wenn das Maß der Mühen erfüllt ist, dann drän¬
gen sich die großen Entscheidungen mit plötzlicher Raschheit, dann kommt
Glück über Glück und Erfolg auf Erfolg. Es ist als sollten wir in einem
Jahre das Streben von Jahrzehnten verwirklichen, als sollte die Gegenwart
uns mit einemmal Alles das einlösen, was die Vergangenheit uns schuldig
blieb. So mag das deutsche Volk über seine Errungenschaften denken, wenn
es an der Wende dieses Jahres zurückschaut; kein Stamm von all den vielen
wird sein, dessen ferne Wünsche nicht erfüllt oder überholt wären. Aber nicht
für alle war der Weg gleich weit, nicht bei allen ist der Gegensatz zwischen
dem, was sie einst bedeutet haben und was sie nun bedeuten, derselbe. Denn
im Norden war der Einheitsgedanke schon lange lebendig, während die süd¬
deutschen Staaten noch in der Jsolirung ihre Größe suchten; die Entwicklung
aller inneren Verhältnisse, die Tendenzen der Regierung und die Meinung
des Volkes stützten sich geradezu auf diesen Gegensatz. Man hat die Schwa¬
ben stetH als den zähesten Stamm im Reiche hingestellt und das mag viel¬
leicht culturgeschichtlich begründet sein, allein politisch, staatlich genommen
war es entschieden Bayern, wo die centrifugalen Bestrebungen ihren Höhe¬
punkt erreichten. Sie wurden durch die Traditionen getragen, welche die
Wittelsbach'sche Dynastie seit der Schlacht am Weißen Berge übernommen
hatte, und durch alle erdenklichen Vorurtheile von geistlicher Seite genährt.
Jedes mißliche Geschick das über Bayern kam, ward in diesem Geiste ausge¬
beutet und wo es an passenden Gründen fehlte, wurden Gründe erfunden.
Der Zweck heiligt ja die Mittel, und den Meistern dieser Lehre war Alles
daran gelegen, Bayern in schroffem Gegensatz zum protestantischen Norden
zu erhalten. Die Institutionen des Landes, die insbesondere vor 1848 ein
specifisch particularistisches Gepräge trugen, begünstigten diese Sonderstellung,
indem sie das Land mit einer bureaukratischen Dornenhecke umgaben; die
Elemente, die einer nationalen Bewegung die Hand boten, waren numerisch
zu gering und vermochten dem eingebornen gros nicht zu widerstehen. Dazu
kam, daß die sterile Neactionsperiode der fünfziger Jahre auch nicht ein histo¬
risches Moment in sich schloß, aus dem ein nationaler Aufschwung hätte er¬
blühen können, an das die deutsche Begeisterung anzuknüpfen im Stande ge¬
wesen wäre. Von dieser Gestaltung der Dinge bis zur Gemeinschaft des
deutschen Reiches war allerdings ein weiter Weg. Und dennoch blieb Bayern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/126893"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> ^Mische Jaljresrechmmg in Aayern.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_80" next="#ID_81"> Es geht im Leben eines Volkes, wie im Leben des Einzelnen. Der stille<lb/>
mühevolle Fleiß, in dem sich große Errungenschaften vorbereiten, dauert Jahre<lb/>
und Jahre lang, die in scheinbarer Unfruchtbarkeit, freudlos und erfolglos<lb/>
verstreichen &#x2014; dann aber, wenn das Maß der Mühen erfüllt ist, dann drän¬<lb/>
gen sich die großen Entscheidungen mit plötzlicher Raschheit, dann kommt<lb/>
Glück über Glück und Erfolg auf Erfolg. Es ist als sollten wir in einem<lb/>
Jahre das Streben von Jahrzehnten verwirklichen, als sollte die Gegenwart<lb/>
uns mit einemmal Alles das einlösen, was die Vergangenheit uns schuldig<lb/>
blieb. So mag das deutsche Volk über seine Errungenschaften denken, wenn<lb/>
es an der Wende dieses Jahres zurückschaut; kein Stamm von all den vielen<lb/>
wird sein, dessen ferne Wünsche nicht erfüllt oder überholt wären. Aber nicht<lb/>
für alle war der Weg gleich weit, nicht bei allen ist der Gegensatz zwischen<lb/>
dem, was sie einst bedeutet haben und was sie nun bedeuten, derselbe. Denn<lb/>
im Norden war der Einheitsgedanke schon lange lebendig, während die süd¬<lb/>
deutschen Staaten noch in der Jsolirung ihre Größe suchten; die Entwicklung<lb/>
aller inneren Verhältnisse, die Tendenzen der Regierung und die Meinung<lb/>
des Volkes stützten sich geradezu auf diesen Gegensatz. Man hat die Schwa¬<lb/>
ben stetH als den zähesten Stamm im Reiche hingestellt und das mag viel¬<lb/>
leicht culturgeschichtlich begründet sein, allein politisch, staatlich genommen<lb/>
war es entschieden Bayern, wo die centrifugalen Bestrebungen ihren Höhe¬<lb/>
punkt erreichten. Sie wurden durch die Traditionen getragen, welche die<lb/>
Wittelsbach'sche Dynastie seit der Schlacht am Weißen Berge übernommen<lb/>
hatte, und durch alle erdenklichen Vorurtheile von geistlicher Seite genährt.<lb/>
Jedes mißliche Geschick das über Bayern kam, ward in diesem Geiste ausge¬<lb/>
beutet und wo es an passenden Gründen fehlte, wurden Gründe erfunden.<lb/>
Der Zweck heiligt ja die Mittel, und den Meistern dieser Lehre war Alles<lb/>
daran gelegen, Bayern in schroffem Gegensatz zum protestantischen Norden<lb/>
zu erhalten. Die Institutionen des Landes, die insbesondere vor 1848 ein<lb/>
specifisch particularistisches Gepräge trugen, begünstigten diese Sonderstellung,<lb/>
indem sie das Land mit einer bureaukratischen Dornenhecke umgaben; die<lb/>
Elemente, die einer nationalen Bewegung die Hand boten, waren numerisch<lb/>
zu gering und vermochten dem eingebornen gros nicht zu widerstehen. Dazu<lb/>
kam, daß die sterile Neactionsperiode der fünfziger Jahre auch nicht ein histo¬<lb/>
risches Moment in sich schloß, aus dem ein nationaler Aufschwung hätte er¬<lb/>
blühen können, an das die deutsche Begeisterung anzuknüpfen im Stande ge¬<lb/>
wesen wäre. Von dieser Gestaltung der Dinge bis zur Gemeinschaft des<lb/>
deutschen Reiches war allerdings ein weiter Weg. Und dennoch blieb Bayern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0039] ^Mische Jaljresrechmmg in Aayern. Es geht im Leben eines Volkes, wie im Leben des Einzelnen. Der stille mühevolle Fleiß, in dem sich große Errungenschaften vorbereiten, dauert Jahre und Jahre lang, die in scheinbarer Unfruchtbarkeit, freudlos und erfolglos verstreichen — dann aber, wenn das Maß der Mühen erfüllt ist, dann drän¬ gen sich die großen Entscheidungen mit plötzlicher Raschheit, dann kommt Glück über Glück und Erfolg auf Erfolg. Es ist als sollten wir in einem Jahre das Streben von Jahrzehnten verwirklichen, als sollte die Gegenwart uns mit einemmal Alles das einlösen, was die Vergangenheit uns schuldig blieb. So mag das deutsche Volk über seine Errungenschaften denken, wenn es an der Wende dieses Jahres zurückschaut; kein Stamm von all den vielen wird sein, dessen ferne Wünsche nicht erfüllt oder überholt wären. Aber nicht für alle war der Weg gleich weit, nicht bei allen ist der Gegensatz zwischen dem, was sie einst bedeutet haben und was sie nun bedeuten, derselbe. Denn im Norden war der Einheitsgedanke schon lange lebendig, während die süd¬ deutschen Staaten noch in der Jsolirung ihre Größe suchten; die Entwicklung aller inneren Verhältnisse, die Tendenzen der Regierung und die Meinung des Volkes stützten sich geradezu auf diesen Gegensatz. Man hat die Schwa¬ ben stetH als den zähesten Stamm im Reiche hingestellt und das mag viel¬ leicht culturgeschichtlich begründet sein, allein politisch, staatlich genommen war es entschieden Bayern, wo die centrifugalen Bestrebungen ihren Höhe¬ punkt erreichten. Sie wurden durch die Traditionen getragen, welche die Wittelsbach'sche Dynastie seit der Schlacht am Weißen Berge übernommen hatte, und durch alle erdenklichen Vorurtheile von geistlicher Seite genährt. Jedes mißliche Geschick das über Bayern kam, ward in diesem Geiste ausge¬ beutet und wo es an passenden Gründen fehlte, wurden Gründe erfunden. Der Zweck heiligt ja die Mittel, und den Meistern dieser Lehre war Alles daran gelegen, Bayern in schroffem Gegensatz zum protestantischen Norden zu erhalten. Die Institutionen des Landes, die insbesondere vor 1848 ein specifisch particularistisches Gepräge trugen, begünstigten diese Sonderstellung, indem sie das Land mit einer bureaukratischen Dornenhecke umgaben; die Elemente, die einer nationalen Bewegung die Hand boten, waren numerisch zu gering und vermochten dem eingebornen gros nicht zu widerstehen. Dazu kam, daß die sterile Neactionsperiode der fünfziger Jahre auch nicht ein histo¬ risches Moment in sich schloß, aus dem ein nationaler Aufschwung hätte er¬ blühen können, an das die deutsche Begeisterung anzuknüpfen im Stande ge¬ wesen wäre. Von dieser Gestaltung der Dinge bis zur Gemeinschaft des deutschen Reiches war allerdings ein weiter Weg. Und dennoch blieb Bayern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/39
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/39>, abgerufen am 07.05.2024.