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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht
von
Max Jähns.
IV.

Napoleon hatte den Krieg mit Nußland von langer Hand her vorbereitet.
Schon Anfangs 1811 begannen unermeßliche Vorbereitungen zur Aufstellung
von Mannschaft und Heranschaffung von Material und Transportmitteln.
-- Was den Bedarf an Menschen betrifft, so war er schwer zu decken; nicht
nur, weil der spanische Krieg Hunderttausende forderte, sondern namentlich
auch, weil die Abneigung des französischen Volkes gegen den
Kriegsdienst sich auf das Bielersee zur Geltung brachte. In vielen Theilen
Frankreichs, zumal im Westen und Süden entflohen die Conscriptionspflichtigen
massenhaft und bargen sich, von der Bevölkerung geschützt, in Wäldern und
Gebirgen. Selbst Thiers, der doch immer bestrebt ist, den militärischen Geist
der "großen Nation" hervorzuheben, schlägt die Zahl dieser Rcfractäre im
Frühjahr 1811 auf mindestens 60,000 an! Um ihrer Meister zu werden, griff
Napoleon zu demselben Mittel wie einst der Convent: er ließ Treibja gden
auf die Recruten anstellen. Mohne Colonnen durchzogen das Land mit
der Ermächtigung, dasselbe "militärisch zu behandeln." Die Eltern und Ver¬
wandten der Flüchtlinge wurden mit unerschwinglicher Einquartierung belegt,
bis sich die Refraetäre stellten. Und wie hausten diese gkriusküres! Thiers
meint entschuldigend: die alten Soldaten hätten die Desertion der Rekruten
natürlich als etwas sehr Schimpfliches angesehen und seien um so wüthender
aus die Flüchtlinge gewesen, da ja durch deren Entweichen die Last des Krieges
auf sie selbst noch härter fallen mußte; dazu sei gekommen, daß diese alten
Soldaten sich in der Fremde gar zu sehr gewöhnt hätten, als Sieger und
Eroberer aufzutreten, und daher sei denn in manchen Departements die Er¬
bitterung über sie bis zur Verzweiflung gestiegen.

Unter solchen Umständen war es für Napoleon ein dringendes Bedürf¬
niß, mehr wie je die Kräfte anderer Nationen in seinem Waffendienst zu ver¬
werthen, und da boten sich, dreifach willkommen durch angeborene Tapferkeit,
historische Feindschaft gegen Rußland und durch geographische Lage die Polen


GrmMm I. 1872. 52
Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht
von
Max Jähns.
IV.

Napoleon hatte den Krieg mit Nußland von langer Hand her vorbereitet.
Schon Anfangs 1811 begannen unermeßliche Vorbereitungen zur Aufstellung
von Mannschaft und Heranschaffung von Material und Transportmitteln.
— Was den Bedarf an Menschen betrifft, so war er schwer zu decken; nicht
nur, weil der spanische Krieg Hunderttausende forderte, sondern namentlich
auch, weil die Abneigung des französischen Volkes gegen den
Kriegsdienst sich auf das Bielersee zur Geltung brachte. In vielen Theilen
Frankreichs, zumal im Westen und Süden entflohen die Conscriptionspflichtigen
massenhaft und bargen sich, von der Bevölkerung geschützt, in Wäldern und
Gebirgen. Selbst Thiers, der doch immer bestrebt ist, den militärischen Geist
der „großen Nation" hervorzuheben, schlägt die Zahl dieser Rcfractäre im
Frühjahr 1811 auf mindestens 60,000 an! Um ihrer Meister zu werden, griff
Napoleon zu demselben Mittel wie einst der Convent: er ließ Treibja gden
auf die Recruten anstellen. Mohne Colonnen durchzogen das Land mit
der Ermächtigung, dasselbe „militärisch zu behandeln." Die Eltern und Ver¬
wandten der Flüchtlinge wurden mit unerschwinglicher Einquartierung belegt,
bis sich die Refraetäre stellten. Und wie hausten diese gkriusküres! Thiers
meint entschuldigend: die alten Soldaten hätten die Desertion der Rekruten
natürlich als etwas sehr Schimpfliches angesehen und seien um so wüthender
aus die Flüchtlinge gewesen, da ja durch deren Entweichen die Last des Krieges
auf sie selbst noch härter fallen mußte; dazu sei gekommen, daß diese alten
Soldaten sich in der Fremde gar zu sehr gewöhnt hätten, als Sieger und
Eroberer aufzutreten, und daher sei denn in manchen Departements die Er¬
bitterung über sie bis zur Verzweiflung gestiegen.

Unter solchen Umständen war es für Napoleon ein dringendes Bedürf¬
niß, mehr wie je die Kräfte anderer Nationen in seinem Waffendienst zu ver¬
werthen, und da boten sich, dreifach willkommen durch angeborene Tapferkeit,
historische Feindschaft gegen Rußland und durch geographische Lage die Polen


GrmMm I. 1872. 52
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[0417] Frankreich und die allgemeine Wehrpflicht von Max Jähns. IV. Napoleon hatte den Krieg mit Nußland von langer Hand her vorbereitet. Schon Anfangs 1811 begannen unermeßliche Vorbereitungen zur Aufstellung von Mannschaft und Heranschaffung von Material und Transportmitteln. — Was den Bedarf an Menschen betrifft, so war er schwer zu decken; nicht nur, weil der spanische Krieg Hunderttausende forderte, sondern namentlich auch, weil die Abneigung des französischen Volkes gegen den Kriegsdienst sich auf das Bielersee zur Geltung brachte. In vielen Theilen Frankreichs, zumal im Westen und Süden entflohen die Conscriptionspflichtigen massenhaft und bargen sich, von der Bevölkerung geschützt, in Wäldern und Gebirgen. Selbst Thiers, der doch immer bestrebt ist, den militärischen Geist der „großen Nation" hervorzuheben, schlägt die Zahl dieser Rcfractäre im Frühjahr 1811 auf mindestens 60,000 an! Um ihrer Meister zu werden, griff Napoleon zu demselben Mittel wie einst der Convent: er ließ Treibja gden auf die Recruten anstellen. Mohne Colonnen durchzogen das Land mit der Ermächtigung, dasselbe „militärisch zu behandeln." Die Eltern und Ver¬ wandten der Flüchtlinge wurden mit unerschwinglicher Einquartierung belegt, bis sich die Refraetäre stellten. Und wie hausten diese gkriusküres! Thiers meint entschuldigend: die alten Soldaten hätten die Desertion der Rekruten natürlich als etwas sehr Schimpfliches angesehen und seien um so wüthender aus die Flüchtlinge gewesen, da ja durch deren Entweichen die Last des Krieges auf sie selbst noch härter fallen mußte; dazu sei gekommen, daß diese alten Soldaten sich in der Fremde gar zu sehr gewöhnt hätten, als Sieger und Eroberer aufzutreten, und daher sei denn in manchen Departements die Er¬ bitterung über sie bis zur Verzweiflung gestiegen. Unter solchen Umständen war es für Napoleon ein dringendes Bedürf¬ niß, mehr wie je die Kräfte anderer Nationen in seinem Waffendienst zu ver¬ werthen, und da boten sich, dreifach willkommen durch angeborene Tapferkeit, historische Feindschaft gegen Rußland und durch geographische Lage die Polen GrmMm I. 1872. 52

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/417>, abgerufen am 07.05.2024.