Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Ministerkrisis und die gegenwärtigen Erfolge des Altkatholicismus in
Rückwirkung auf Bayern.

Nach einer Krisis von fast vier Monaten sind in Bayern wieder regel¬
mäßige Zustände eingetreten; und es ist wenigstens ein fester Abschluß er¬
reicht, von dem aus wir die Ereignisse betrachten können.

Frägt man, was den Anstoß zur Idee eines Systemwechsels gab, oder
welches die inneren Gründe für eine so überraschende Absicht waren, so ist
man freilich noch heute ebenso im Ungewissen wie damals. In der Regel
geht dem Wechsel der Kabinete doch ein Umschwung der öffentlichen Meinung
voraus, die Partei, die schließlich ans Ruder kommt, erlangt im Volke, im
Parlamente oder in irgend welcher anderen Beziehung einen überwiegenden
Einfluß und ihre Berufung zur Ministerliste ist in der Regel nur der for¬
melle Vollzug, die äußere Anerkennung jener Ueberlegenheit, die sie bereits
der Sache nach besitzt. Allein von dieser Situation ging die bayerische Mi¬
nisterkrisis keineswegs aus, sie hatte, wenn man es staatsrechtlich ausdrücken
will, durchaus keinen parlamentarischen Charakter. Im Gegentheil die Partei,
der sie zum Ruder verhelfen sollte, war gerade damals als Hegnenberg starb,
in entschiedenem Niedergange begriffen, ihre materiellen Mittel waren keines¬
wegs sehr einladend um einem neuen Kabinete zur Basis zu dienen und ihr
moralisches Ansehen konnte sie noch weniger empfehlen. Wer die Reihe der
hervorragenderen Geschehnisse in Bayern betrachtet, die sich seit dem Schlüsse
der Landtagssession ergaben, der muß vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß
eine successive Abnahme des particularistischen Geistes und eine stetige Op¬
position gegen die klerikalen Principien die charakteristischen Züge der baye¬
rischen Politik waren.

Die formelle Majorität, welche lange Zeit die Kammer terrorisirt hatte,
besaß schon längst nicht mehr jene hemmende Bedeutung; der Hader der kle¬
rikalen Organe ließ schon damals erkennen, welche Zwietracht in der Partei
entstand. Weder das Verhalten, das die Regierung an den Tag legte, gab
einen Anhaltspunkt, daß man es auf eine Veränderung der bisherigen
Richtung absehe; noch konnte man aus der Art wie das Publikum sich ver¬
hielt, den Schluß ziehen, als sei man einer nationalen Politik hier müde ge¬
worden. Wir betonen diese Situation weil sie gerade ein charakteristisches
Merkmal für die eintretende Ministerkrisis war, d. h. weil sie am schlagend¬
sten beweist, wie wenig dieselbe aus dem Bewußtsein des Volkes hervorging
und von der öffentlichen Meinung unterstützt ward.

Als Hegnenberg am 2. Juni starb, dachte noch Niemand daran, daß ein


Grcnzb"wi IV- 1872. 15

Die Ministerkrisis und die gegenwärtigen Erfolge des Altkatholicismus in
Rückwirkung auf Bayern.

Nach einer Krisis von fast vier Monaten sind in Bayern wieder regel¬
mäßige Zustände eingetreten; und es ist wenigstens ein fester Abschluß er¬
reicht, von dem aus wir die Ereignisse betrachten können.

Frägt man, was den Anstoß zur Idee eines Systemwechsels gab, oder
welches die inneren Gründe für eine so überraschende Absicht waren, so ist
man freilich noch heute ebenso im Ungewissen wie damals. In der Regel
geht dem Wechsel der Kabinete doch ein Umschwung der öffentlichen Meinung
voraus, die Partei, die schließlich ans Ruder kommt, erlangt im Volke, im
Parlamente oder in irgend welcher anderen Beziehung einen überwiegenden
Einfluß und ihre Berufung zur Ministerliste ist in der Regel nur der for¬
melle Vollzug, die äußere Anerkennung jener Ueberlegenheit, die sie bereits
der Sache nach besitzt. Allein von dieser Situation ging die bayerische Mi¬
nisterkrisis keineswegs aus, sie hatte, wenn man es staatsrechtlich ausdrücken
will, durchaus keinen parlamentarischen Charakter. Im Gegentheil die Partei,
der sie zum Ruder verhelfen sollte, war gerade damals als Hegnenberg starb,
in entschiedenem Niedergange begriffen, ihre materiellen Mittel waren keines¬
wegs sehr einladend um einem neuen Kabinete zur Basis zu dienen und ihr
moralisches Ansehen konnte sie noch weniger empfehlen. Wer die Reihe der
hervorragenderen Geschehnisse in Bayern betrachtet, die sich seit dem Schlüsse
der Landtagssession ergaben, der muß vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß
eine successive Abnahme des particularistischen Geistes und eine stetige Op¬
position gegen die klerikalen Principien die charakteristischen Züge der baye¬
rischen Politik waren.

Die formelle Majorität, welche lange Zeit die Kammer terrorisirt hatte,
besaß schon längst nicht mehr jene hemmende Bedeutung; der Hader der kle¬
rikalen Organe ließ schon damals erkennen, welche Zwietracht in der Partei
entstand. Weder das Verhalten, das die Regierung an den Tag legte, gab
einen Anhaltspunkt, daß man es auf eine Veränderung der bisherigen
Richtung absehe; noch konnte man aus der Art wie das Publikum sich ver¬
hielt, den Schluß ziehen, als sei man einer nationalen Politik hier müde ge¬
worden. Wir betonen diese Situation weil sie gerade ein charakteristisches
Merkmal für die eintretende Ministerkrisis war, d. h. weil sie am schlagend¬
sten beweist, wie wenig dieselbe aus dem Bewußtsein des Volkes hervorging
und von der öffentlichen Meinung unterstützt ward.

Als Hegnenberg am 2. Juni starb, dachte noch Niemand daran, daß ein


Grcnzb„wi IV- 1872. 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0121" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128575"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head><lb/>
Die Ministerkrisis und die gegenwärtigen Erfolge des Altkatholicismus in<lb/>
Rückwirkung auf Bayern.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_320"> Nach einer Krisis von fast vier Monaten sind in Bayern wieder regel¬<lb/>
mäßige Zustände eingetreten; und es ist wenigstens ein fester Abschluß er¬<lb/>
reicht, von dem aus wir die Ereignisse betrachten können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_321"> Frägt man, was den Anstoß zur Idee eines Systemwechsels gab, oder<lb/>
welches die inneren Gründe für eine so überraschende Absicht waren, so ist<lb/>
man freilich noch heute ebenso im Ungewissen wie damals. In der Regel<lb/>
geht dem Wechsel der Kabinete doch ein Umschwung der öffentlichen Meinung<lb/>
voraus, die Partei, die schließlich ans Ruder kommt, erlangt im Volke, im<lb/>
Parlamente oder in irgend welcher anderen Beziehung einen überwiegenden<lb/>
Einfluß und ihre Berufung zur Ministerliste ist in der Regel nur der for¬<lb/>
melle Vollzug, die äußere Anerkennung jener Ueberlegenheit, die sie bereits<lb/>
der Sache nach besitzt. Allein von dieser Situation ging die bayerische Mi¬<lb/>
nisterkrisis keineswegs aus, sie hatte, wenn man es staatsrechtlich ausdrücken<lb/>
will, durchaus keinen parlamentarischen Charakter. Im Gegentheil die Partei,<lb/>
der sie zum Ruder verhelfen sollte, war gerade damals als Hegnenberg starb,<lb/>
in entschiedenem Niedergange begriffen, ihre materiellen Mittel waren keines¬<lb/>
wegs sehr einladend um einem neuen Kabinete zur Basis zu dienen und ihr<lb/>
moralisches Ansehen konnte sie noch weniger empfehlen. Wer die Reihe der<lb/>
hervorragenderen Geschehnisse in Bayern betrachtet, die sich seit dem Schlüsse<lb/>
der Landtagssession ergaben, der muß vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß<lb/>
eine successive Abnahme des particularistischen Geistes und eine stetige Op¬<lb/>
position gegen die klerikalen Principien die charakteristischen Züge der baye¬<lb/>
rischen Politik waren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_322"> Die formelle Majorität, welche lange Zeit die Kammer terrorisirt hatte,<lb/>
besaß schon längst nicht mehr jene hemmende Bedeutung; der Hader der kle¬<lb/>
rikalen Organe ließ schon damals erkennen, welche Zwietracht in der Partei<lb/>
entstand. Weder das Verhalten, das die Regierung an den Tag legte, gab<lb/>
einen Anhaltspunkt, daß man es auf eine Veränderung der bisherigen<lb/>
Richtung absehe; noch konnte man aus der Art wie das Publikum sich ver¬<lb/>
hielt, den Schluß ziehen, als sei man einer nationalen Politik hier müde ge¬<lb/>
worden. Wir betonen diese Situation weil sie gerade ein charakteristisches<lb/>
Merkmal für die eintretende Ministerkrisis war, d. h. weil sie am schlagend¬<lb/>
sten beweist, wie wenig dieselbe aus dem Bewußtsein des Volkes hervorging<lb/>
und von der öffentlichen Meinung unterstützt ward.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_323" next="#ID_324"> Als Hegnenberg am 2. Juni starb, dachte noch Niemand daran, daß ein</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzb&#x201E;wi IV- 1872. 15</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0121] Die Ministerkrisis und die gegenwärtigen Erfolge des Altkatholicismus in Rückwirkung auf Bayern. Nach einer Krisis von fast vier Monaten sind in Bayern wieder regel¬ mäßige Zustände eingetreten; und es ist wenigstens ein fester Abschluß er¬ reicht, von dem aus wir die Ereignisse betrachten können. Frägt man, was den Anstoß zur Idee eines Systemwechsels gab, oder welches die inneren Gründe für eine so überraschende Absicht waren, so ist man freilich noch heute ebenso im Ungewissen wie damals. In der Regel geht dem Wechsel der Kabinete doch ein Umschwung der öffentlichen Meinung voraus, die Partei, die schließlich ans Ruder kommt, erlangt im Volke, im Parlamente oder in irgend welcher anderen Beziehung einen überwiegenden Einfluß und ihre Berufung zur Ministerliste ist in der Regel nur der for¬ melle Vollzug, die äußere Anerkennung jener Ueberlegenheit, die sie bereits der Sache nach besitzt. Allein von dieser Situation ging die bayerische Mi¬ nisterkrisis keineswegs aus, sie hatte, wenn man es staatsrechtlich ausdrücken will, durchaus keinen parlamentarischen Charakter. Im Gegentheil die Partei, der sie zum Ruder verhelfen sollte, war gerade damals als Hegnenberg starb, in entschiedenem Niedergange begriffen, ihre materiellen Mittel waren keines¬ wegs sehr einladend um einem neuen Kabinete zur Basis zu dienen und ihr moralisches Ansehen konnte sie noch weniger empfehlen. Wer die Reihe der hervorragenderen Geschehnisse in Bayern betrachtet, die sich seit dem Schlüsse der Landtagssession ergaben, der muß vielmehr zu der Einsicht gelangen, daß eine successive Abnahme des particularistischen Geistes und eine stetige Op¬ position gegen die klerikalen Principien die charakteristischen Züge der baye¬ rischen Politik waren. Die formelle Majorität, welche lange Zeit die Kammer terrorisirt hatte, besaß schon längst nicht mehr jene hemmende Bedeutung; der Hader der kle¬ rikalen Organe ließ schon damals erkennen, welche Zwietracht in der Partei entstand. Weder das Verhalten, das die Regierung an den Tag legte, gab einen Anhaltspunkt, daß man es auf eine Veränderung der bisherigen Richtung absehe; noch konnte man aus der Art wie das Publikum sich ver¬ hielt, den Schluß ziehen, als sei man einer nationalen Politik hier müde ge¬ worden. Wir betonen diese Situation weil sie gerade ein charakteristisches Merkmal für die eintretende Ministerkrisis war, d. h. weil sie am schlagend¬ sten beweist, wie wenig dieselbe aus dem Bewußtsein des Volkes hervorging und von der öffentlichen Meinung unterstützt ward. Als Hegnenberg am 2. Juni starb, dachte noch Niemand daran, daß ein Grcnzb„wi IV- 1872. 15

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/121
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/121>, abgerufen am 04.05.2024.