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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Daß der Ministerpräsident Graf Roon in einem vor der Sitzung des 7.
an das Abgeordnetenhaus gerichtetem Schreiben, welches zu Anfang der
Sitzung verlesen wurde, die Anklage gegen seinen Untergebenen zurückzuweisen
suchte, bevor sie begründet worden, hat er nachher selbst bedauert. Noch
mehr ist zu bedauern, daß das Schreiben eine Insinuation enthielt, die der
Ministerpräsident schon unmittelbar nach der Verlesung zurückzunehmen ge¬
O -- r. nöthigt war.




Der Kewinn Europas von den Siegen Deutschlands.

Die deutsch-englische Waffenbrüderschaft von 1816 hatte in der nachfol¬
genden Zeit bis in die Mitte der sechsziger Jahre auf englischer Seite allge¬
mach einer sehr veränderten Stimmung Platz gemacht, einem höhnischen und
neidischen Herabsehen auf Deutschland. Diese Stimmung erreichte ihren Gipfel
in den verschiedenen Perioden des deutsch-dänischen Streites. Seit den Siegen
der Jahre 1866 und 1870--1871 hat es an Achtungsbezeugungen für Deutsch¬
land seitens der englischen Presse und öffentlichen Meinung zwar nicht gefehlt,
aber der alte Ton bricht dazwischen hin und wieder durch und verräth auf
dem Grunde der nationalen Anschauung eine Beurtheilung, die weder neidlos
noch einsichtig ist. Um so erfreulicher erscheint es, wenn eine wahrheitsgemäße
und zugleich aufrichtige, nicht bloß von Klugheitsrücksichten eingegebene Ansicht
über die Stellung, welche Deutschland gewonnen hat, und den Vortheil, wel¬
chen dieselbe für England im Gefolge hat, zu Tage tritt. Eine aufrichtige
Meinung der Art finden wir neuerlich in "Mac Millians Magazine" nieder¬
gelegt in einem Aufsatz, dessen Verfasser vielleicht die selbsterlebten Gefühle der
alten Waffenbrüderschaft mit dem richtigen Urtheil über die heutige Lage Eng¬
lands verbindet. Wir lesen in diesem Aufsatz: "der zweite Bonaparte wurde
von Deutschland allein niedergeworfen, aber wir (Engländer) ernten die Früchte
des Sieges mit."

Es lohnt wahrhaftig der Mühe, sich einmal zu vergegenwärtigen, wie es
heute in Europa aussähe, wenn 1870 Napoleon III. über Deutschland gesiegt
hätte. Man wird finden, daß seine Stellung nach einem solchen Siege in
hohem Grade der des ersten Napoleon würde geglichen haben. Es ist eine
einseitige Ansicht, die Stellung Napoleon I. immer allein auf dessen Genie und
Herrschsucht zu schieben. Die Stellung, die dieser besaß, ergiebt sich mit einer
gewissen natürlichen Nothwendigkeit, wenn Frankreich, wer immer an dessen
Spitze stehe, das Uebergewicht in Deutschland erlangt.

Der französische Sieg über Deutschland würde zunächst Italien ganz in
Frankreichs Hände gegeben haben. Eine bonapartische Secundogenitur in Nea¬
pel , ein weltlicher Staat des Papstes, wenn auch vielleicht nicht in der Aus-


Daß der Ministerpräsident Graf Roon in einem vor der Sitzung des 7.
an das Abgeordnetenhaus gerichtetem Schreiben, welches zu Anfang der
Sitzung verlesen wurde, die Anklage gegen seinen Untergebenen zurückzuweisen
suchte, bevor sie begründet worden, hat er nachher selbst bedauert. Noch
mehr ist zu bedauern, daß das Schreiben eine Insinuation enthielt, die der
Ministerpräsident schon unmittelbar nach der Verlesung zurückzunehmen ge¬
O — r. nöthigt war.




Der Kewinn Europas von den Siegen Deutschlands.

Die deutsch-englische Waffenbrüderschaft von 1816 hatte in der nachfol¬
genden Zeit bis in die Mitte der sechsziger Jahre auf englischer Seite allge¬
mach einer sehr veränderten Stimmung Platz gemacht, einem höhnischen und
neidischen Herabsehen auf Deutschland. Diese Stimmung erreichte ihren Gipfel
in den verschiedenen Perioden des deutsch-dänischen Streites. Seit den Siegen
der Jahre 1866 und 1870—1871 hat es an Achtungsbezeugungen für Deutsch¬
land seitens der englischen Presse und öffentlichen Meinung zwar nicht gefehlt,
aber der alte Ton bricht dazwischen hin und wieder durch und verräth auf
dem Grunde der nationalen Anschauung eine Beurtheilung, die weder neidlos
noch einsichtig ist. Um so erfreulicher erscheint es, wenn eine wahrheitsgemäße
und zugleich aufrichtige, nicht bloß von Klugheitsrücksichten eingegebene Ansicht
über die Stellung, welche Deutschland gewonnen hat, und den Vortheil, wel¬
chen dieselbe für England im Gefolge hat, zu Tage tritt. Eine aufrichtige
Meinung der Art finden wir neuerlich in „Mac Millians Magazine" nieder¬
gelegt in einem Aufsatz, dessen Verfasser vielleicht die selbsterlebten Gefühle der
alten Waffenbrüderschaft mit dem richtigen Urtheil über die heutige Lage Eng¬
lands verbindet. Wir lesen in diesem Aufsatz: „der zweite Bonaparte wurde
von Deutschland allein niedergeworfen, aber wir (Engländer) ernten die Früchte
des Sieges mit."

Es lohnt wahrhaftig der Mühe, sich einmal zu vergegenwärtigen, wie es
heute in Europa aussähe, wenn 1870 Napoleon III. über Deutschland gesiegt
hätte. Man wird finden, daß seine Stellung nach einem solchen Siege in
hohem Grade der des ersten Napoleon würde geglichen haben. Es ist eine
einseitige Ansicht, die Stellung Napoleon I. immer allein auf dessen Genie und
Herrschsucht zu schieben. Die Stellung, die dieser besaß, ergiebt sich mit einer
gewissen natürlichen Nothwendigkeit, wenn Frankreich, wer immer an dessen
Spitze stehe, das Uebergewicht in Deutschland erlangt.

Der französische Sieg über Deutschland würde zunächst Italien ganz in
Frankreichs Hände gegeben haben. Eine bonapartische Secundogenitur in Nea¬
pel , ein weltlicher Staat des Papstes, wenn auch vielleicht nicht in der Aus-


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[0284] Daß der Ministerpräsident Graf Roon in einem vor der Sitzung des 7. an das Abgeordnetenhaus gerichtetem Schreiben, welches zu Anfang der Sitzung verlesen wurde, die Anklage gegen seinen Untergebenen zurückzuweisen suchte, bevor sie begründet worden, hat er nachher selbst bedauert. Noch mehr ist zu bedauern, daß das Schreiben eine Insinuation enthielt, die der Ministerpräsident schon unmittelbar nach der Verlesung zurückzunehmen ge¬ O — r. nöthigt war. Der Kewinn Europas von den Siegen Deutschlands. Die deutsch-englische Waffenbrüderschaft von 1816 hatte in der nachfol¬ genden Zeit bis in die Mitte der sechsziger Jahre auf englischer Seite allge¬ mach einer sehr veränderten Stimmung Platz gemacht, einem höhnischen und neidischen Herabsehen auf Deutschland. Diese Stimmung erreichte ihren Gipfel in den verschiedenen Perioden des deutsch-dänischen Streites. Seit den Siegen der Jahre 1866 und 1870—1871 hat es an Achtungsbezeugungen für Deutsch¬ land seitens der englischen Presse und öffentlichen Meinung zwar nicht gefehlt, aber der alte Ton bricht dazwischen hin und wieder durch und verräth auf dem Grunde der nationalen Anschauung eine Beurtheilung, die weder neidlos noch einsichtig ist. Um so erfreulicher erscheint es, wenn eine wahrheitsgemäße und zugleich aufrichtige, nicht bloß von Klugheitsrücksichten eingegebene Ansicht über die Stellung, welche Deutschland gewonnen hat, und den Vortheil, wel¬ chen dieselbe für England im Gefolge hat, zu Tage tritt. Eine aufrichtige Meinung der Art finden wir neuerlich in „Mac Millians Magazine" nieder¬ gelegt in einem Aufsatz, dessen Verfasser vielleicht die selbsterlebten Gefühle der alten Waffenbrüderschaft mit dem richtigen Urtheil über die heutige Lage Eng¬ lands verbindet. Wir lesen in diesem Aufsatz: „der zweite Bonaparte wurde von Deutschland allein niedergeworfen, aber wir (Engländer) ernten die Früchte des Sieges mit." Es lohnt wahrhaftig der Mühe, sich einmal zu vergegenwärtigen, wie es heute in Europa aussähe, wenn 1870 Napoleon III. über Deutschland gesiegt hätte. Man wird finden, daß seine Stellung nach einem solchen Siege in hohem Grade der des ersten Napoleon würde geglichen haben. Es ist eine einseitige Ansicht, die Stellung Napoleon I. immer allein auf dessen Genie und Herrschsucht zu schieben. Die Stellung, die dieser besaß, ergiebt sich mit einer gewissen natürlichen Nothwendigkeit, wenn Frankreich, wer immer an dessen Spitze stehe, das Uebergewicht in Deutschland erlangt. Der französische Sieg über Deutschland würde zunächst Italien ganz in Frankreichs Hände gegeben haben. Eine bonapartische Secundogenitur in Nea¬ pel , ein weltlicher Staat des Papstes, wenn auch vielleicht nicht in der Aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/284>, abgerufen am 04.05.2024.