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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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dehnung des alten Kirchenstaates, wären die Folgen gewesen. Das sardintsch"
norditalienische Königreich hätte sich mit dem Zuwachs Venetiens begnügen
müssen und vielleicht mit dem Köder künftiger Erwerbungen im Orient. Das
Papstthum wäre fest an Frankreich geschmiedet gewesen. Wo hätte es sonst
die Garantie seines weltlichen Besitzes, wo die Garantie selbst seines kirchlichen
ungeschmälerten Einflusses gefunden? Damit wäre es aber auch zum Werkzeug
Frankreichs geworden.

Mit dem französischen Siege über Deutschland wäre Oesterreich nothge¬
drungen Frankreichs abhängiger Bundesgenosse geworden. Bei wem. als bei
Frankreich hätte es Schutz suchen sollen gegen den Einfluß Rußlands auf
seine slavischen Elemente, für seine Lebensinteressen auf der Balkanhalbinsel?
Die Herrschaft der römischen Hierarchie wäre in Oesterreich unangreifbar ge¬
worden, Papstthum und Hierarchie hätten das unauflösliche Vasallenband
Oesterreichs zu Frankreich geschlungen.

Mit dem französischen Sieg über Deutschland hätte Rußland freilich nicht
die Gunst seiner schwer zugänglichen Lage und seiner ungeheuren Ausdehnung
verloren. Napoleon III. würde auch schwerlich den Feldzug von 1812 jemals
wieder versucht haben. Aber er hätte es in der Hand gehabt, von dem ab¬
hängigen Oesterreich aus die polnische Frage offen zu halten. Er wäre der
Schiedsrichter in der orientalischen Frage geworden. Er hätte es in der Hand
gehabt, die Constellation des Krimkrieges, die Vereinigung Englands, Oester¬
reichs. Italiens unter französischer Führung gegen Rußland mit viel größerem
Nachdruck als damals zu erneuern. Rußland wäre also zwar nicht abhängig
von Frankreich geworden wie Italien und Oesterreich, aber es hätte Frank¬
reichs Gunst jederzeit um einen hohen Preis suchen müssen. Es hätte sich
nicht in seinem Innern, aber in seiner Bewegung von Frankreich abhängig gesehen.

Und nun denke man sich nach einem französischen Siege über Deutschland
die Stellung Englands. Napoleon III. würde nicht ermangelt haben, außer
dem linken Rheinufer das Küstenland der Nordsee, wie zur Zeit des ersten
Kaiserreiches, Frankreich einzuverleiben. Belgien und Holland wären, wenn
nicht unmittelbar französische Gebiete, mindestens völlig abhängige Vasallen¬
länder geworden- Kaum anders wäre es mit den skandinavischen Königrei¬
chen gegangen. Von einer solchen Position aus wäre bei dem heutigen Zustand
der französischen Kriegsflotte, nachdem die Erfindung der Schraube das Ue¬
bergewicht der englischen Manövrirkunst zur See so gut wie ausgeglichen.
England unmittelbar bedroht gewesen. Es hätte die Hand Napoleons so zu
sagen immerfort an der Gurgel gefühlt. Napoleon III. hätte allerdings nur
im Nothfall an eine Landung in England gedacht. Aber Englands Lebens'
interesser, die Stellung in Egypten und Indien hätten von Napoleons Gnade
abgehangen. Was hätte England thun wollen, wenn Napoleon sich Egyptens
bemächtigt und Rußland ermuntert hätte, auf Indien zu marschiren? Er


dehnung des alten Kirchenstaates, wären die Folgen gewesen. Das sardintsch«
norditalienische Königreich hätte sich mit dem Zuwachs Venetiens begnügen
müssen und vielleicht mit dem Köder künftiger Erwerbungen im Orient. Das
Papstthum wäre fest an Frankreich geschmiedet gewesen. Wo hätte es sonst
die Garantie seines weltlichen Besitzes, wo die Garantie selbst seines kirchlichen
ungeschmälerten Einflusses gefunden? Damit wäre es aber auch zum Werkzeug
Frankreichs geworden.

Mit dem französischen Siege über Deutschland wäre Oesterreich nothge¬
drungen Frankreichs abhängiger Bundesgenosse geworden. Bei wem. als bei
Frankreich hätte es Schutz suchen sollen gegen den Einfluß Rußlands auf
seine slavischen Elemente, für seine Lebensinteressen auf der Balkanhalbinsel?
Die Herrschaft der römischen Hierarchie wäre in Oesterreich unangreifbar ge¬
worden, Papstthum und Hierarchie hätten das unauflösliche Vasallenband
Oesterreichs zu Frankreich geschlungen.

Mit dem französischen Sieg über Deutschland hätte Rußland freilich nicht
die Gunst seiner schwer zugänglichen Lage und seiner ungeheuren Ausdehnung
verloren. Napoleon III. würde auch schwerlich den Feldzug von 1812 jemals
wieder versucht haben. Aber er hätte es in der Hand gehabt, von dem ab¬
hängigen Oesterreich aus die polnische Frage offen zu halten. Er wäre der
Schiedsrichter in der orientalischen Frage geworden. Er hätte es in der Hand
gehabt, die Constellation des Krimkrieges, die Vereinigung Englands, Oester¬
reichs. Italiens unter französischer Führung gegen Rußland mit viel größerem
Nachdruck als damals zu erneuern. Rußland wäre also zwar nicht abhängig
von Frankreich geworden wie Italien und Oesterreich, aber es hätte Frank¬
reichs Gunst jederzeit um einen hohen Preis suchen müssen. Es hätte sich
nicht in seinem Innern, aber in seiner Bewegung von Frankreich abhängig gesehen.

Und nun denke man sich nach einem französischen Siege über Deutschland
die Stellung Englands. Napoleon III. würde nicht ermangelt haben, außer
dem linken Rheinufer das Küstenland der Nordsee, wie zur Zeit des ersten
Kaiserreiches, Frankreich einzuverleiben. Belgien und Holland wären, wenn
nicht unmittelbar französische Gebiete, mindestens völlig abhängige Vasallen¬
länder geworden- Kaum anders wäre es mit den skandinavischen Königrei¬
chen gegangen. Von einer solchen Position aus wäre bei dem heutigen Zustand
der französischen Kriegsflotte, nachdem die Erfindung der Schraube das Ue¬
bergewicht der englischen Manövrirkunst zur See so gut wie ausgeglichen.
England unmittelbar bedroht gewesen. Es hätte die Hand Napoleons so zu
sagen immerfort an der Gurgel gefühlt. Napoleon III. hätte allerdings nur
im Nothfall an eine Landung in England gedacht. Aber Englands Lebens'
interesser, die Stellung in Egypten und Indien hätten von Napoleons Gnade
abgehangen. Was hätte England thun wollen, wenn Napoleon sich Egyptens
bemächtigt und Rußland ermuntert hätte, auf Indien zu marschiren? Er


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/285>, abgerufen am 23.05.2024.