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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band.

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gehen, denn von der Vernunftzehe herunter sieht das ganze Leben wie eine
böse Krankheit und die Welt einem Tollhaus gleich.

Bey allem dem vortrefflichen, scharfsinnigen köstlichen, worin unser alter
Lehrer sich immer gleich bleibt, scheint es mir an vielen Stellen bornirt und
an noch mehrern illiberal. Ein weiser Mann sollte das Wort: Narr nicht
so oft, brauchen, besonders da ihm selbst der Hochmuth so lästig ist. Genie
und Talent sind ihm überall im Wege die Poeten sind jhm zuwider und
von den übrigen Künsten versteht er Gott sei Dank nichts, in einzelnen Fällen
ist er pädantisch wie z. B., daß er eine Vermischung des sanguinischen und
colerischen Temperaments nicht leiden will, freylich ist der Ausdruck: Ver¬
mischung auch in meinem Sinne falsch aber daß es eine Steigerung des
sanguinischen Temperaments bis ins colerische durch alle Stufen gebe, lehrt
die Erfahrung. Ist denn doch die ganze Trennung in vier Temperamente nur
künstlich und zur Bequemlichkeit des Beobachters,

Die Behauptung, daß junge Weiber deswegen allgemein zu gefallen su¬
chen, um sich nach dem Tode ihres Mannes einen zweyten vorzubereiten, die
er noch dazu einigemal wiederholt, ist eigentlich so ein Einfall wie die schlech¬
ten Spaßvogel manchmal in Gesellschaft vorbringen und geziemt sich nur
für so einen alten Hagestolz. Die Schilderung der Nationen scheint mir für
einen Mann, der so lange in der Welt gelebt, sehr seicht und wie schon oben
erinnert das ganze für eine Andropologie (sie) nicht liberal und artig genug,
so bald ich den Menschen darstellen will, wie er ist, besonders wenn ich allen
Augenblick gestehen muß, daß es ja nicht einmal von ihm abhängt anders zu
seyn, daß der wünschenswerte Vernunstszustand nur wenigen und denen nur
im hohen Alter zu Theil wird, so dächte ich, müßte man die Sache freund¬
licher, einladender und erquickender geben.

Ich kann von einmaligem und zwar sehr flüchtigem Lesen nicht abur¬
theilen, aber es scheint mir auf einige tadelnswürdige, so wie auf einige lo-
benswürdige Seiten der menschlichen Natur nicht genug Gewicht gelegt, wo¬
von künftig mehr die Rede sein kann.

Genug das, womit ich angefangen habe, glaube ich wiederholen zu kön¬
nen. Der Pädagog kann es nutzen, um sich über verschiedene mensch¬
liche Zustände Klarheit zu verschaffen und indem er durch Liebe diese Kennt¬
nisse belebt und wirksam macht, sehr großen Nutzen stiften.


5) Goethe an ( ? Voigt).

Wenn Ew. Excellenz lange nichts von mir vernehmen, so ist es ein
Beweis, daß ich mich nicht zum besten befinde. Ich habe diese Tage her
zwar nicht schmerzhaft doch viel gelitten, beinah in völlige Unthätigkeit
versetzt.

Hiebey auf den letzten Blättern des kleinen Akten-Fasciculs das neuste


gehen, denn von der Vernunftzehe herunter sieht das ganze Leben wie eine
böse Krankheit und die Welt einem Tollhaus gleich.

Bey allem dem vortrefflichen, scharfsinnigen köstlichen, worin unser alter
Lehrer sich immer gleich bleibt, scheint es mir an vielen Stellen bornirt und
an noch mehrern illiberal. Ein weiser Mann sollte das Wort: Narr nicht
so oft, brauchen, besonders da ihm selbst der Hochmuth so lästig ist. Genie
und Talent sind ihm überall im Wege die Poeten sind jhm zuwider und
von den übrigen Künsten versteht er Gott sei Dank nichts, in einzelnen Fällen
ist er pädantisch wie z. B., daß er eine Vermischung des sanguinischen und
colerischen Temperaments nicht leiden will, freylich ist der Ausdruck: Ver¬
mischung auch in meinem Sinne falsch aber daß es eine Steigerung des
sanguinischen Temperaments bis ins colerische durch alle Stufen gebe, lehrt
die Erfahrung. Ist denn doch die ganze Trennung in vier Temperamente nur
künstlich und zur Bequemlichkeit des Beobachters,

Die Behauptung, daß junge Weiber deswegen allgemein zu gefallen su¬
chen, um sich nach dem Tode ihres Mannes einen zweyten vorzubereiten, die
er noch dazu einigemal wiederholt, ist eigentlich so ein Einfall wie die schlech¬
ten Spaßvogel manchmal in Gesellschaft vorbringen und geziemt sich nur
für so einen alten Hagestolz. Die Schilderung der Nationen scheint mir für
einen Mann, der so lange in der Welt gelebt, sehr seicht und wie schon oben
erinnert das ganze für eine Andropologie (sie) nicht liberal und artig genug,
so bald ich den Menschen darstellen will, wie er ist, besonders wenn ich allen
Augenblick gestehen muß, daß es ja nicht einmal von ihm abhängt anders zu
seyn, daß der wünschenswerte Vernunstszustand nur wenigen und denen nur
im hohen Alter zu Theil wird, so dächte ich, müßte man die Sache freund¬
licher, einladender und erquickender geben.

Ich kann von einmaligem und zwar sehr flüchtigem Lesen nicht abur¬
theilen, aber es scheint mir auf einige tadelnswürdige, so wie auf einige lo-
benswürdige Seiten der menschlichen Natur nicht genug Gewicht gelegt, wo¬
von künftig mehr die Rede sein kann.

Genug das, womit ich angefangen habe, glaube ich wiederholen zu kön¬
nen. Der Pädagog kann es nutzen, um sich über verschiedene mensch¬
liche Zustände Klarheit zu verschaffen und indem er durch Liebe diese Kennt¬
nisse belebt und wirksam macht, sehr großen Nutzen stiften.


5) Goethe an ( ? Voigt).

Wenn Ew. Excellenz lange nichts von mir vernehmen, so ist es ein
Beweis, daß ich mich nicht zum besten befinde. Ich habe diese Tage her
zwar nicht schmerzhaft doch viel gelitten, beinah in völlige Unthätigkeit
versetzt.

Hiebey auf den letzten Blättern des kleinen Akten-Fasciculs das neuste


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[0101] gehen, denn von der Vernunftzehe herunter sieht das ganze Leben wie eine böse Krankheit und die Welt einem Tollhaus gleich. Bey allem dem vortrefflichen, scharfsinnigen köstlichen, worin unser alter Lehrer sich immer gleich bleibt, scheint es mir an vielen Stellen bornirt und an noch mehrern illiberal. Ein weiser Mann sollte das Wort: Narr nicht so oft, brauchen, besonders da ihm selbst der Hochmuth so lästig ist. Genie und Talent sind ihm überall im Wege die Poeten sind jhm zuwider und von den übrigen Künsten versteht er Gott sei Dank nichts, in einzelnen Fällen ist er pädantisch wie z. B., daß er eine Vermischung des sanguinischen und colerischen Temperaments nicht leiden will, freylich ist der Ausdruck: Ver¬ mischung auch in meinem Sinne falsch aber daß es eine Steigerung des sanguinischen Temperaments bis ins colerische durch alle Stufen gebe, lehrt die Erfahrung. Ist denn doch die ganze Trennung in vier Temperamente nur künstlich und zur Bequemlichkeit des Beobachters, Die Behauptung, daß junge Weiber deswegen allgemein zu gefallen su¬ chen, um sich nach dem Tode ihres Mannes einen zweyten vorzubereiten, die er noch dazu einigemal wiederholt, ist eigentlich so ein Einfall wie die schlech¬ ten Spaßvogel manchmal in Gesellschaft vorbringen und geziemt sich nur für so einen alten Hagestolz. Die Schilderung der Nationen scheint mir für einen Mann, der so lange in der Welt gelebt, sehr seicht und wie schon oben erinnert das ganze für eine Andropologie (sie) nicht liberal und artig genug, so bald ich den Menschen darstellen will, wie er ist, besonders wenn ich allen Augenblick gestehen muß, daß es ja nicht einmal von ihm abhängt anders zu seyn, daß der wünschenswerte Vernunstszustand nur wenigen und denen nur im hohen Alter zu Theil wird, so dächte ich, müßte man die Sache freund¬ licher, einladender und erquickender geben. Ich kann von einmaligem und zwar sehr flüchtigem Lesen nicht abur¬ theilen, aber es scheint mir auf einige tadelnswürdige, so wie auf einige lo- benswürdige Seiten der menschlichen Natur nicht genug Gewicht gelegt, wo¬ von künftig mehr die Rede sein kann. Genug das, womit ich angefangen habe, glaube ich wiederholen zu kön¬ nen. Der Pädagog kann es nutzen, um sich über verschiedene mensch¬ liche Zustände Klarheit zu verschaffen und indem er durch Liebe diese Kennt¬ nisse belebt und wirksam macht, sehr großen Nutzen stiften. 5) Goethe an ( ? Voigt). Wenn Ew. Excellenz lange nichts von mir vernehmen, so ist es ein Beweis, daß ich mich nicht zum besten befinde. Ich habe diese Tage her zwar nicht schmerzhaft doch viel gelitten, beinah in völlige Unthätigkeit versetzt. Hiebey auf den letzten Blättern des kleinen Akten-Fasciculs das neuste

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_130059/101>, abgerufen am 02.05.2024.