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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band.

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Antike Dichtung und moderne Kunst.

Der Kunsthandel bereitet uns bisweilen Überraschungen, von denen kein
Menschenkind sich etwas hätte träumen lassen. Allen steht noch in frischer
Erinnerung, wie vor zwei Jahren die prächtigen Blätter aus "Hendschel's
Skizzenbuche" an den Schaufenstern unsrer Buchhandlungen sich zum ersten
Male präsentirten. Niemand hatte je etwas von Hendschel gehört, niemand
wußte über ihn Auskunft zu geben, aber seine Bilder eroberten im Fluge
die Herzen von Jung und Alt durch die Mannichfaltigkeit und Originalität
ihrer Erfindung, durch die Anmuth ihrer Darstellung, durch ihren liebens¬
würdigen Humor und ihre tiefinnerliche Gemüthlichkeit. Und welches Stau¬
nen , als man später erfuhr, daß der Schöpfer dieser Blätter bereits ein Vier¬
ziger und daß das, was er veröffentlicht, nur eine kleine, dem anspruchslosen
Künstler von Freunden abgedrungene Auswahl aus einem unbeschreiblichen
Reichthum von Skizzen sei, der noch in seinen Mappen vergraben liege! ---
Heute haben wir über eine Ueberraschung ganz ähnlicher und doch ganz an¬
derer Art zu berichten. Vor uns liegt ein vor wenigen Wochen erschienenes
Werk, ein einfach, aber äußerst geschmackvoll ausgestatteter Großquartband,
der den Titel trägt: Umrißzeichnungenzuden Tragödien des Sopho¬
kles. Sechzehn Blätter, mit erläuterndem Text, von Ferdinand Lach-
mann. Leipzig, 1873. E. A. Seemann.

Zunächst wird mancher mit Befremden fragen: "Illustrationen zu So¬
phokles? Was ist daran so überraschendes? Hat es denn die nicht längst
gegeben?" Vereinzelt allerdings. Aber eine fortlaufende Serie von bild¬
lichen Darstellungen zu allen sieben uns erhaltenen Tragödien des großen
griechischen Dichters ist nie von einem modernen Künstler geschaffen worden.
Es klingt das fast unglaublich, und doch ist es so. Sophokles ist in dem
großen Dichterdreigestirn der griechischen Tragödie für uns moderne Menschen
ohne Zweifel der sympathischste. Durch Donner's schöne Uebertragung --
eines der wenigen wirklichen Meisterstücke deutscher Uebersetzungskunst -- sind
seine Dichtungen auch den der classischen Bildung ferner stehenden mit unge¬
wöhnlicher Treue vermittelt worden, und die zwar völlig unantike, aber doch


Gi'enzboten IV. 1873. 51
Antike Dichtung und moderne Kunst.

Der Kunsthandel bereitet uns bisweilen Überraschungen, von denen kein
Menschenkind sich etwas hätte träumen lassen. Allen steht noch in frischer
Erinnerung, wie vor zwei Jahren die prächtigen Blätter aus „Hendschel's
Skizzenbuche" an den Schaufenstern unsrer Buchhandlungen sich zum ersten
Male präsentirten. Niemand hatte je etwas von Hendschel gehört, niemand
wußte über ihn Auskunft zu geben, aber seine Bilder eroberten im Fluge
die Herzen von Jung und Alt durch die Mannichfaltigkeit und Originalität
ihrer Erfindung, durch die Anmuth ihrer Darstellung, durch ihren liebens¬
würdigen Humor und ihre tiefinnerliche Gemüthlichkeit. Und welches Stau¬
nen , als man später erfuhr, daß der Schöpfer dieser Blätter bereits ein Vier¬
ziger und daß das, was er veröffentlicht, nur eine kleine, dem anspruchslosen
Künstler von Freunden abgedrungene Auswahl aus einem unbeschreiblichen
Reichthum von Skizzen sei, der noch in seinen Mappen vergraben liege! -—
Heute haben wir über eine Ueberraschung ganz ähnlicher und doch ganz an¬
derer Art zu berichten. Vor uns liegt ein vor wenigen Wochen erschienenes
Werk, ein einfach, aber äußerst geschmackvoll ausgestatteter Großquartband,
der den Titel trägt: Umrißzeichnungenzuden Tragödien des Sopho¬
kles. Sechzehn Blätter, mit erläuterndem Text, von Ferdinand Lach-
mann. Leipzig, 1873. E. A. Seemann.

Zunächst wird mancher mit Befremden fragen: „Illustrationen zu So¬
phokles? Was ist daran so überraschendes? Hat es denn die nicht längst
gegeben?" Vereinzelt allerdings. Aber eine fortlaufende Serie von bild¬
lichen Darstellungen zu allen sieben uns erhaltenen Tragödien des großen
griechischen Dichters ist nie von einem modernen Künstler geschaffen worden.
Es klingt das fast unglaublich, und doch ist es so. Sophokles ist in dem
großen Dichterdreigestirn der griechischen Tragödie für uns moderne Menschen
ohne Zweifel der sympathischste. Durch Donner's schöne Uebertragung —
eines der wenigen wirklichen Meisterstücke deutscher Uebersetzungskunst — sind
seine Dichtungen auch den der classischen Bildung ferner stehenden mit unge¬
wöhnlicher Treue vermittelt worden, und die zwar völlig unantike, aber doch


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[0409] Antike Dichtung und moderne Kunst. Der Kunsthandel bereitet uns bisweilen Überraschungen, von denen kein Menschenkind sich etwas hätte träumen lassen. Allen steht noch in frischer Erinnerung, wie vor zwei Jahren die prächtigen Blätter aus „Hendschel's Skizzenbuche" an den Schaufenstern unsrer Buchhandlungen sich zum ersten Male präsentirten. Niemand hatte je etwas von Hendschel gehört, niemand wußte über ihn Auskunft zu geben, aber seine Bilder eroberten im Fluge die Herzen von Jung und Alt durch die Mannichfaltigkeit und Originalität ihrer Erfindung, durch die Anmuth ihrer Darstellung, durch ihren liebens¬ würdigen Humor und ihre tiefinnerliche Gemüthlichkeit. Und welches Stau¬ nen , als man später erfuhr, daß der Schöpfer dieser Blätter bereits ein Vier¬ ziger und daß das, was er veröffentlicht, nur eine kleine, dem anspruchslosen Künstler von Freunden abgedrungene Auswahl aus einem unbeschreiblichen Reichthum von Skizzen sei, der noch in seinen Mappen vergraben liege! -— Heute haben wir über eine Ueberraschung ganz ähnlicher und doch ganz an¬ derer Art zu berichten. Vor uns liegt ein vor wenigen Wochen erschienenes Werk, ein einfach, aber äußerst geschmackvoll ausgestatteter Großquartband, der den Titel trägt: Umrißzeichnungenzuden Tragödien des Sopho¬ kles. Sechzehn Blätter, mit erläuterndem Text, von Ferdinand Lach- mann. Leipzig, 1873. E. A. Seemann. Zunächst wird mancher mit Befremden fragen: „Illustrationen zu So¬ phokles? Was ist daran so überraschendes? Hat es denn die nicht längst gegeben?" Vereinzelt allerdings. Aber eine fortlaufende Serie von bild¬ lichen Darstellungen zu allen sieben uns erhaltenen Tragödien des großen griechischen Dichters ist nie von einem modernen Künstler geschaffen worden. Es klingt das fast unglaublich, und doch ist es so. Sophokles ist in dem großen Dichterdreigestirn der griechischen Tragödie für uns moderne Menschen ohne Zweifel der sympathischste. Durch Donner's schöne Uebertragung — eines der wenigen wirklichen Meisterstücke deutscher Uebersetzungskunst — sind seine Dichtungen auch den der classischen Bildung ferner stehenden mit unge¬ wöhnlicher Treue vermittelt worden, und die zwar völlig unantike, aber doch Gi'enzboten IV. 1873. 51

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_130059/409>, abgerufen am 02.05.2024.