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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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Ueber den Styl in der Kriegskunst.
Von
Max Jähns. (Schluß,)

Die gothische Architektur wie das ritterliche Feudalsystem haben in der
letzten Hälfte des Mittelalters eine Universalherrschaft geübt wie kein Baustyl
und kein Kriegsstyl jemals vorher. Beide verbreiteten sich mit unwidersteh¬
licher Gewalt und wunderbarer Schnelligkeit über alle Länder der Christen¬
heit, um nach kurzer Blüthezeit allgemeiner Entartung anheimzufallen -- ein
Schicksal, das sich besonders durch jenen Gegensatz erklärt zwischen der strengen
Gesetzmäßigkeit des inneren Systems und dem Sonderleben willkürlicher Einzel¬
gebilde auf der Oberfläche/) Die realen Mächte reagiren gegen die
idealen Ansprüche der Gothik wie gegen die der Vassallenkriegsverfassung.
Eine tiefe Gärung hat sich der Geister bemächtigt; ein gewaltiger Drang nach
Wissen und Erkenntniß erfüllt sie. Die Einnahme von Konstantinopel durch
die Türken, in Folge deren eine große Anzahl griechischer Flüchtlinge
die Kunde antik-hellenischer Literatur zunächst in Italien mehr und mehr
ausbreitet, kommt diesem Drange zu Statten. Ein gelehrtes Studium von
einer Tiefe und einem Umfange, wie keine Zeit vorher sie gekannt hatte,
bahnt einem neuen wissenschaftlichen Leben den Weg.**) Schon anfangs des
Is. Jahrhunderts griffen die italienischen Künstler, die den gothischen Styl
immer nur äußerlich aufgenommen, mit Bewußtsein zu den antiken Formen
zurück, und ganz dasselbe geschah von den italienischen Kriegsmännern
jener Zeit. In beiden Fällen wollte man eine Wiedergeburt der Kunst her¬
beiführen. Diese Nennaissance ging von einem sorgfältigen Studium der an¬
tiken Ueberreste aus, um in ihnen die Grundlage für die Entwickelung eines
neuen künstlerischen Lebens zu gewinnen. Und dabei hatten Baukunst und
Kriegskunst wieder ein und dasselbe Schicksal. -- Denn wie jene vorbildlichen
Formen an den antik-römischen Gebäuden bereits abgeleitete waren, die
sich nicht ohne Trübung ihres ursprünglichen Wesens andern Zwecken anbe¬
quemt hatten, und wie also die Baukunst der Renaissance aus zweiter Hand
schöpfte, ebenso erging es auch der Kriegskunst. Ihre vornehmste Quelle ist
der trübe Vegez. der erst um 375 n. Chr. schrieb*") und der sich zu dem um





') Vergl. Lübke -i. c>. D.
") Vergl. Voigt- Die Wiederbelebung des klassischen Alterthums. Berlin. 185!".
Vvqotius usu-rtusi llpitomv iostitutionnm rsi militari". -- Fünf Bücher. Beste
Ausgabe: Scriver. 2 Bde. Antwerpen l"i")7. -- Deutsche Uebersetzung: Meinecke. Halle 1800.
Ueber den Styl in der Kriegskunst.
Von
Max Jähns. (Schluß,)

Die gothische Architektur wie das ritterliche Feudalsystem haben in der
letzten Hälfte des Mittelalters eine Universalherrschaft geübt wie kein Baustyl
und kein Kriegsstyl jemals vorher. Beide verbreiteten sich mit unwidersteh¬
licher Gewalt und wunderbarer Schnelligkeit über alle Länder der Christen¬
heit, um nach kurzer Blüthezeit allgemeiner Entartung anheimzufallen — ein
Schicksal, das sich besonders durch jenen Gegensatz erklärt zwischen der strengen
Gesetzmäßigkeit des inneren Systems und dem Sonderleben willkürlicher Einzel¬
gebilde auf der Oberfläche/) Die realen Mächte reagiren gegen die
idealen Ansprüche der Gothik wie gegen die der Vassallenkriegsverfassung.
Eine tiefe Gärung hat sich der Geister bemächtigt; ein gewaltiger Drang nach
Wissen und Erkenntniß erfüllt sie. Die Einnahme von Konstantinopel durch
die Türken, in Folge deren eine große Anzahl griechischer Flüchtlinge
die Kunde antik-hellenischer Literatur zunächst in Italien mehr und mehr
ausbreitet, kommt diesem Drange zu Statten. Ein gelehrtes Studium von
einer Tiefe und einem Umfange, wie keine Zeit vorher sie gekannt hatte,
bahnt einem neuen wissenschaftlichen Leben den Weg.**) Schon anfangs des
Is. Jahrhunderts griffen die italienischen Künstler, die den gothischen Styl
immer nur äußerlich aufgenommen, mit Bewußtsein zu den antiken Formen
zurück, und ganz dasselbe geschah von den italienischen Kriegsmännern
jener Zeit. In beiden Fällen wollte man eine Wiedergeburt der Kunst her¬
beiführen. Diese Nennaissance ging von einem sorgfältigen Studium der an¬
tiken Ueberreste aus, um in ihnen die Grundlage für die Entwickelung eines
neuen künstlerischen Lebens zu gewinnen. Und dabei hatten Baukunst und
Kriegskunst wieder ein und dasselbe Schicksal. — Denn wie jene vorbildlichen
Formen an den antik-römischen Gebäuden bereits abgeleitete waren, die
sich nicht ohne Trübung ihres ursprünglichen Wesens andern Zwecken anbe¬
quemt hatten, und wie also die Baukunst der Renaissance aus zweiter Hand
schöpfte, ebenso erging es auch der Kriegskunst. Ihre vornehmste Quelle ist
der trübe Vegez. der erst um 375 n. Chr. schrieb*") und der sich zu dem um





') Vergl. Lübke -i. c>. D.
") Vergl. Voigt- Die Wiederbelebung des klassischen Alterthums. Berlin. 185!».
Vvqotius usu-rtusi llpitomv iostitutionnm rsi militari«. — Fünf Bücher. Beste
Ausgabe: Scriver. 2 Bde. Antwerpen l«i«)7. — Deutsche Uebersetzung: Meinecke. Halle 1800.
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[0300] Ueber den Styl in der Kriegskunst. Von Max Jähns. (Schluß,) Die gothische Architektur wie das ritterliche Feudalsystem haben in der letzten Hälfte des Mittelalters eine Universalherrschaft geübt wie kein Baustyl und kein Kriegsstyl jemals vorher. Beide verbreiteten sich mit unwidersteh¬ licher Gewalt und wunderbarer Schnelligkeit über alle Länder der Christen¬ heit, um nach kurzer Blüthezeit allgemeiner Entartung anheimzufallen — ein Schicksal, das sich besonders durch jenen Gegensatz erklärt zwischen der strengen Gesetzmäßigkeit des inneren Systems und dem Sonderleben willkürlicher Einzel¬ gebilde auf der Oberfläche/) Die realen Mächte reagiren gegen die idealen Ansprüche der Gothik wie gegen die der Vassallenkriegsverfassung. Eine tiefe Gärung hat sich der Geister bemächtigt; ein gewaltiger Drang nach Wissen und Erkenntniß erfüllt sie. Die Einnahme von Konstantinopel durch die Türken, in Folge deren eine große Anzahl griechischer Flüchtlinge die Kunde antik-hellenischer Literatur zunächst in Italien mehr und mehr ausbreitet, kommt diesem Drange zu Statten. Ein gelehrtes Studium von einer Tiefe und einem Umfange, wie keine Zeit vorher sie gekannt hatte, bahnt einem neuen wissenschaftlichen Leben den Weg.**) Schon anfangs des Is. Jahrhunderts griffen die italienischen Künstler, die den gothischen Styl immer nur äußerlich aufgenommen, mit Bewußtsein zu den antiken Formen zurück, und ganz dasselbe geschah von den italienischen Kriegsmännern jener Zeit. In beiden Fällen wollte man eine Wiedergeburt der Kunst her¬ beiführen. Diese Nennaissance ging von einem sorgfältigen Studium der an¬ tiken Ueberreste aus, um in ihnen die Grundlage für die Entwickelung eines neuen künstlerischen Lebens zu gewinnen. Und dabei hatten Baukunst und Kriegskunst wieder ein und dasselbe Schicksal. — Denn wie jene vorbildlichen Formen an den antik-römischen Gebäuden bereits abgeleitete waren, die sich nicht ohne Trübung ihres ursprünglichen Wesens andern Zwecken anbe¬ quemt hatten, und wie also die Baukunst der Renaissance aus zweiter Hand schöpfte, ebenso erging es auch der Kriegskunst. Ihre vornehmste Quelle ist der trübe Vegez. der erst um 375 n. Chr. schrieb*") und der sich zu dem um ') Vergl. Lübke -i. c>. D. ") Vergl. Voigt- Die Wiederbelebung des klassischen Alterthums. Berlin. 185!». Vvqotius usu-rtusi llpitomv iostitutionnm rsi militari«. — Fünf Bücher. Beste Ausgabe: Scriver. 2 Bde. Antwerpen l«i«)7. — Deutsche Uebersetzung: Meinecke. Halle 1800.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/300>, abgerufen am 28.04.2024.