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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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motivirt war die Ablehnung der von Rouvier beantragten Einkommensteuer.
Der Antragsteller verlangte ^ vom reinen Einkommen und berechnete
daraus einen Ertrag von 90 Millionen. Vergebens beleuchtete er alle Vor¬
züge dieser Besteuerungsart, betonte namentlich die unverhältnißmäßige Höhe
der Erhebungskosten bei den indirekten Steuern -- man hat nun einmal in
Frankreich eine unüberwindliche Abneigung, die Kosten der Staatsverwaltung
direct aus dem Geldbeutel zu bestreiten. Zudem hält ja die Bourgeoisie die
Einkommensteuer für communistisch. So wurde denn nicht einmal ein von
Rouvier gestellter Antrag angenommen, die Frage der Einkommensteuer
wenigstens der Budgetcommission zur Prüfung zu überweisen. Desgleichen
wurde abgelehnt der Vorschlag Leon Say's, die zur Amortisation der der
Bank von Frankreich geschuldeten Summe von 1068 Millionen bestimmte
Jahresrate von 200 Millionen für fünf Jahre auf eine Baarzahlung von je
180 Mill. zu beschränken und die übrigen 60 Mill. in 1879 fälligen Schatz¬
bons zu erlegen. Endlich verwarf die Versammlung eine von der lustigen
Person des Hauses, Herrn von Lorgeril, beantragte Steuer auf hohe Hüte
und Livreemützen. Die positiven Ergebnisse der Steuerdebatte werden am
b esten nach dem definitiven Abschluß der letzteren zusammengefaßt.




Ariefe aus der Kaiserstadt.

Morgen, am lustigen Rosenmontag, beginnt der deutsche Reichstag die
Berathung des Militärgesetzes, übermorgen, am Fastnachtsdienstag, tritt das
Herrenhaus endlich in die Discussion der Civilehevorlage, und am Ascher¬
mittwoch wird uns Herr von Kleist-Retzow eine Kapuzinerrede über den un¬
abwendbaren Verfall aller Sitte und Ordnung halten.*) "Armes Berlin."
seufzt Ihr mitleidsvoll da draußen im Reich, "so mußt du in der ernsten
Prosa des politischen Werkeltags die Faschingszeit vertrauern." Gemach ihr
Freunde! Auch wir haben unsern Carneval. Ja, wer hätte es geglaubt, an
der Schwelle von des 19. Jahrhunderts letztem Viertel wird morgen in der kalt¬
kritischen "Stadt der Intelligenz" der erste öffentliche Fastnachtszug unter¬
nommen werden! Allerdings ein gar kühnes Beginnen, dessen Gelingen ich
hiermit keineswegs verbürgt haben will. An sich ist es ja ein recht lobens-
werther Gedanke, auch im kühlen Norden unseres Vaterlandes den Sinn für
die echte Fröhlichkeit des Volksfestes wieder beleben zu wollen, aber für die



' D. Red. ) Ist bereits zur Fastnacht geschehen.

motivirt war die Ablehnung der von Rouvier beantragten Einkommensteuer.
Der Antragsteller verlangte ^ vom reinen Einkommen und berechnete
daraus einen Ertrag von 90 Millionen. Vergebens beleuchtete er alle Vor¬
züge dieser Besteuerungsart, betonte namentlich die unverhältnißmäßige Höhe
der Erhebungskosten bei den indirekten Steuern — man hat nun einmal in
Frankreich eine unüberwindliche Abneigung, die Kosten der Staatsverwaltung
direct aus dem Geldbeutel zu bestreiten. Zudem hält ja die Bourgeoisie die
Einkommensteuer für communistisch. So wurde denn nicht einmal ein von
Rouvier gestellter Antrag angenommen, die Frage der Einkommensteuer
wenigstens der Budgetcommission zur Prüfung zu überweisen. Desgleichen
wurde abgelehnt der Vorschlag Leon Say's, die zur Amortisation der der
Bank von Frankreich geschuldeten Summe von 1068 Millionen bestimmte
Jahresrate von 200 Millionen für fünf Jahre auf eine Baarzahlung von je
180 Mill. zu beschränken und die übrigen 60 Mill. in 1879 fälligen Schatz¬
bons zu erlegen. Endlich verwarf die Versammlung eine von der lustigen
Person des Hauses, Herrn von Lorgeril, beantragte Steuer auf hohe Hüte
und Livreemützen. Die positiven Ergebnisse der Steuerdebatte werden am
b esten nach dem definitiven Abschluß der letzteren zusammengefaßt.




Ariefe aus der Kaiserstadt.

Morgen, am lustigen Rosenmontag, beginnt der deutsche Reichstag die
Berathung des Militärgesetzes, übermorgen, am Fastnachtsdienstag, tritt das
Herrenhaus endlich in die Discussion der Civilehevorlage, und am Ascher¬
mittwoch wird uns Herr von Kleist-Retzow eine Kapuzinerrede über den un¬
abwendbaren Verfall aller Sitte und Ordnung halten.*) „Armes Berlin."
seufzt Ihr mitleidsvoll da draußen im Reich, „so mußt du in der ernsten
Prosa des politischen Werkeltags die Faschingszeit vertrauern." Gemach ihr
Freunde! Auch wir haben unsern Carneval. Ja, wer hätte es geglaubt, an
der Schwelle von des 19. Jahrhunderts letztem Viertel wird morgen in der kalt¬
kritischen „Stadt der Intelligenz" der erste öffentliche Fastnachtszug unter¬
nommen werden! Allerdings ein gar kühnes Beginnen, dessen Gelingen ich
hiermit keineswegs verbürgt haben will. An sich ist es ja ein recht lobens-
werther Gedanke, auch im kühlen Norden unseres Vaterlandes den Sinn für
die echte Fröhlichkeit des Volksfestes wieder beleben zu wollen, aber für die



' D. Red. ) Ist bereits zur Fastnacht geschehen.
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[0322] motivirt war die Ablehnung der von Rouvier beantragten Einkommensteuer. Der Antragsteller verlangte ^ vom reinen Einkommen und berechnete daraus einen Ertrag von 90 Millionen. Vergebens beleuchtete er alle Vor¬ züge dieser Besteuerungsart, betonte namentlich die unverhältnißmäßige Höhe der Erhebungskosten bei den indirekten Steuern — man hat nun einmal in Frankreich eine unüberwindliche Abneigung, die Kosten der Staatsverwaltung direct aus dem Geldbeutel zu bestreiten. Zudem hält ja die Bourgeoisie die Einkommensteuer für communistisch. So wurde denn nicht einmal ein von Rouvier gestellter Antrag angenommen, die Frage der Einkommensteuer wenigstens der Budgetcommission zur Prüfung zu überweisen. Desgleichen wurde abgelehnt der Vorschlag Leon Say's, die zur Amortisation der der Bank von Frankreich geschuldeten Summe von 1068 Millionen bestimmte Jahresrate von 200 Millionen für fünf Jahre auf eine Baarzahlung von je 180 Mill. zu beschränken und die übrigen 60 Mill. in 1879 fälligen Schatz¬ bons zu erlegen. Endlich verwarf die Versammlung eine von der lustigen Person des Hauses, Herrn von Lorgeril, beantragte Steuer auf hohe Hüte und Livreemützen. Die positiven Ergebnisse der Steuerdebatte werden am b esten nach dem definitiven Abschluß der letzteren zusammengefaßt. Ariefe aus der Kaiserstadt. Morgen, am lustigen Rosenmontag, beginnt der deutsche Reichstag die Berathung des Militärgesetzes, übermorgen, am Fastnachtsdienstag, tritt das Herrenhaus endlich in die Discussion der Civilehevorlage, und am Ascher¬ mittwoch wird uns Herr von Kleist-Retzow eine Kapuzinerrede über den un¬ abwendbaren Verfall aller Sitte und Ordnung halten.*) „Armes Berlin." seufzt Ihr mitleidsvoll da draußen im Reich, „so mußt du in der ernsten Prosa des politischen Werkeltags die Faschingszeit vertrauern." Gemach ihr Freunde! Auch wir haben unsern Carneval. Ja, wer hätte es geglaubt, an der Schwelle von des 19. Jahrhunderts letztem Viertel wird morgen in der kalt¬ kritischen „Stadt der Intelligenz" der erste öffentliche Fastnachtszug unter¬ nommen werden! Allerdings ein gar kühnes Beginnen, dessen Gelingen ich hiermit keineswegs verbürgt haben will. An sich ist es ja ein recht lobens- werther Gedanke, auch im kühlen Norden unseres Vaterlandes den Sinn für die echte Fröhlichkeit des Volksfestes wieder beleben zu wollen, aber für die ' D. Red. ) Ist bereits zur Fastnacht geschehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/322>, abgerufen am 28.04.2024.