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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band.

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des sog. Listenserutiniums oder Rückkehr zu der Einzelwahl. Offenbar hat
das erstere System, nach welchem die Abgeordneten departementsweise ernannt
werden, indem jeder Wähler eine Liste der von ihm gewünschten Vertreter
für das ganze Departement in die Urne legt, den Nachtheil, daß die Candi-
daten ihren Wählern unmöglich sämmtlich bekannt sein können, die Wahlen
also nach der Parteischablone gemacht werden. Dazu kommt noch die Unzu¬
träglichkeit, daß bei jeder einzelnen Ersatzwahl immer das ganze Departement
zur Urne entboten werden muß. Deshalb hatte Dufaure die Einzelwahl,
nach welcher jedes Arrondissement einen Deputirten ernennt, vorgeschlagen,
und er befand sich Anfangs im Einklang mit den Forderungen der Conser-
vativen. Seit der großen monarchischen Coalitton hat sich aber der Sachlage
etwas geändert. Bei dem Listenscruttnium können die verschiedenen monar¬
chischen Parteien sich über eine der Stärke jeder einzelnen entsprechende Ver-
theilung der Mandate verständigen; bei der Einzelwahl will natürlich jede
Partei den Deputirtensitz für sich haben. Darum herrscht denn in der Rechten
auch große Unzufriedenheit mit dem Beschlusse des Dreißigerausschusses.
Nunmehr wird sich der letztere noch über das wahlfähige Alter, über den
Modus der Feststellung des Domicils und verschiedene andere, nicht unwichtige
Fragen schlüssig zu machen haben. Wenn er dieselben mit weniger lang-"
wieriger Gründlichkeit prüfen wird, so wird der Grund lediglich in einem
fortwährenden Druck von oben zu suchen sein.

Broglie möchte in der That das neue Wahlgesetz möglichst bald zur
Verfügung haben; es ist das Complement zum Mairegesetz. In der Durch¬
führung des letzteren hat der Premier aufs neue bekundet, daß sein Haupt¬
kampfobject die aufrichtig republikanische Gesinnung ist. Ueber den Unmuth,
welcher aus Anlaß der schonungsloser Absetzungen, namentlich derjenigen des
verdienten Maires von Versailles, Herrn Rameau, laut wurde, ist er mit einer
Nichtachtung hinweggeschritten, welche Louis Napoleon unmittelbar nach dem
Staatsstreich alle Ehre gemacht haben würde. Und dennoch fehlt es nicht
an Leuten, welche zu glauben behaupten, daß aus diesem Zustande der Dinge
sich die Republik entwickeln werde!

Die ehrenwerthe Nationalversammlung müht sich noch immer in endlosen
Steuerdebatten, das Deficit des laufenden Budgets auszugleichen. Beinahe
wäre sie mit der Arbeit fertig geworden, da trat der leidige Carneval da¬
zwischen und man mußte sich bis zum Donnerstag vertagen. Zuerst gelangten
die den Vorschlägen des Finanzministers entgegengestellten Gegenanträge zur
Discussion. Ein Antrag Pascal Duprat's, eine Kapitalsteuer von 1 pro Mille
einzuführen, welche einen Ertrag von 160 Millionen liefern würde, wurde
abgelehnt, und das mit Recht: denn eine Steuer vom Kapital, d. h. ein"
kapitalzerstörende Steuer ist unwirtschaftlich und darum verwerflich. Weniger


des sog. Listenserutiniums oder Rückkehr zu der Einzelwahl. Offenbar hat
das erstere System, nach welchem die Abgeordneten departementsweise ernannt
werden, indem jeder Wähler eine Liste der von ihm gewünschten Vertreter
für das ganze Departement in die Urne legt, den Nachtheil, daß die Candi-
daten ihren Wählern unmöglich sämmtlich bekannt sein können, die Wahlen
also nach der Parteischablone gemacht werden. Dazu kommt noch die Unzu¬
träglichkeit, daß bei jeder einzelnen Ersatzwahl immer das ganze Departement
zur Urne entboten werden muß. Deshalb hatte Dufaure die Einzelwahl,
nach welcher jedes Arrondissement einen Deputirten ernennt, vorgeschlagen,
und er befand sich Anfangs im Einklang mit den Forderungen der Conser-
vativen. Seit der großen monarchischen Coalitton hat sich aber der Sachlage
etwas geändert. Bei dem Listenscruttnium können die verschiedenen monar¬
chischen Parteien sich über eine der Stärke jeder einzelnen entsprechende Ver-
theilung der Mandate verständigen; bei der Einzelwahl will natürlich jede
Partei den Deputirtensitz für sich haben. Darum herrscht denn in der Rechten
auch große Unzufriedenheit mit dem Beschlusse des Dreißigerausschusses.
Nunmehr wird sich der letztere noch über das wahlfähige Alter, über den
Modus der Feststellung des Domicils und verschiedene andere, nicht unwichtige
Fragen schlüssig zu machen haben. Wenn er dieselben mit weniger lang-"
wieriger Gründlichkeit prüfen wird, so wird der Grund lediglich in einem
fortwährenden Druck von oben zu suchen sein.

Broglie möchte in der That das neue Wahlgesetz möglichst bald zur
Verfügung haben; es ist das Complement zum Mairegesetz. In der Durch¬
führung des letzteren hat der Premier aufs neue bekundet, daß sein Haupt¬
kampfobject die aufrichtig republikanische Gesinnung ist. Ueber den Unmuth,
welcher aus Anlaß der schonungsloser Absetzungen, namentlich derjenigen des
verdienten Maires von Versailles, Herrn Rameau, laut wurde, ist er mit einer
Nichtachtung hinweggeschritten, welche Louis Napoleon unmittelbar nach dem
Staatsstreich alle Ehre gemacht haben würde. Und dennoch fehlt es nicht
an Leuten, welche zu glauben behaupten, daß aus diesem Zustande der Dinge
sich die Republik entwickeln werde!

Die ehrenwerthe Nationalversammlung müht sich noch immer in endlosen
Steuerdebatten, das Deficit des laufenden Budgets auszugleichen. Beinahe
wäre sie mit der Arbeit fertig geworden, da trat der leidige Carneval da¬
zwischen und man mußte sich bis zum Donnerstag vertagen. Zuerst gelangten
die den Vorschlägen des Finanzministers entgegengestellten Gegenanträge zur
Discussion. Ein Antrag Pascal Duprat's, eine Kapitalsteuer von 1 pro Mille
einzuführen, welche einen Ertrag von 160 Millionen liefern würde, wurde
abgelehnt, und das mit Recht: denn eine Steuer vom Kapital, d. h. ein«
kapitalzerstörende Steuer ist unwirtschaftlich und darum verwerflich. Weniger


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[0321] des sog. Listenserutiniums oder Rückkehr zu der Einzelwahl. Offenbar hat das erstere System, nach welchem die Abgeordneten departementsweise ernannt werden, indem jeder Wähler eine Liste der von ihm gewünschten Vertreter für das ganze Departement in die Urne legt, den Nachtheil, daß die Candi- daten ihren Wählern unmöglich sämmtlich bekannt sein können, die Wahlen also nach der Parteischablone gemacht werden. Dazu kommt noch die Unzu¬ träglichkeit, daß bei jeder einzelnen Ersatzwahl immer das ganze Departement zur Urne entboten werden muß. Deshalb hatte Dufaure die Einzelwahl, nach welcher jedes Arrondissement einen Deputirten ernennt, vorgeschlagen, und er befand sich Anfangs im Einklang mit den Forderungen der Conser- vativen. Seit der großen monarchischen Coalitton hat sich aber der Sachlage etwas geändert. Bei dem Listenscruttnium können die verschiedenen monar¬ chischen Parteien sich über eine der Stärke jeder einzelnen entsprechende Ver- theilung der Mandate verständigen; bei der Einzelwahl will natürlich jede Partei den Deputirtensitz für sich haben. Darum herrscht denn in der Rechten auch große Unzufriedenheit mit dem Beschlusse des Dreißigerausschusses. Nunmehr wird sich der letztere noch über das wahlfähige Alter, über den Modus der Feststellung des Domicils und verschiedene andere, nicht unwichtige Fragen schlüssig zu machen haben. Wenn er dieselben mit weniger lang-" wieriger Gründlichkeit prüfen wird, so wird der Grund lediglich in einem fortwährenden Druck von oben zu suchen sein. Broglie möchte in der That das neue Wahlgesetz möglichst bald zur Verfügung haben; es ist das Complement zum Mairegesetz. In der Durch¬ führung des letzteren hat der Premier aufs neue bekundet, daß sein Haupt¬ kampfobject die aufrichtig republikanische Gesinnung ist. Ueber den Unmuth, welcher aus Anlaß der schonungsloser Absetzungen, namentlich derjenigen des verdienten Maires von Versailles, Herrn Rameau, laut wurde, ist er mit einer Nichtachtung hinweggeschritten, welche Louis Napoleon unmittelbar nach dem Staatsstreich alle Ehre gemacht haben würde. Und dennoch fehlt es nicht an Leuten, welche zu glauben behaupten, daß aus diesem Zustande der Dinge sich die Republik entwickeln werde! Die ehrenwerthe Nationalversammlung müht sich noch immer in endlosen Steuerdebatten, das Deficit des laufenden Budgets auszugleichen. Beinahe wäre sie mit der Arbeit fertig geworden, da trat der leidige Carneval da¬ zwischen und man mußte sich bis zum Donnerstag vertagen. Zuerst gelangten die den Vorschlägen des Finanzministers entgegengestellten Gegenanträge zur Discussion. Ein Antrag Pascal Duprat's, eine Kapitalsteuer von 1 pro Mille einzuführen, welche einen Ertrag von 160 Millionen liefern würde, wurde abgelehnt, und das mit Recht: denn eine Steuer vom Kapital, d. h. ein« kapitalzerstörende Steuer ist unwirtschaftlich und darum verwerflich. Weniger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_130643/321>, abgerufen am 13.05.2024.