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Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band.

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Jules Michelet.
i.

Anfangs Februar dieses Jahres starb auf einer der Hyerischen Inseln,
wo er Heilung von schweren körperlichen Leiden gesucht hatte, Jules Michelet,
im Alter von über 75 Jahren (geboren 1798 zu Paris). Bei seiner Leichen¬
feier sprach der Maire von Hyeres die Worte: "Ich lege diesen Kranz auf
den Sarg des Mannes, welcher der vollkommenste Ausdruck des französischen
Nationalgenies gewesen ist. Er hat die Vergangenheit unserer Geschichte
wieder aufleben lassen, um unsere künftige Wiedergeburt vorzubereiten."

Wie weit Michelet zu der künftigen Wiedergeburt Frankreichs mitgewirkt
hat, ist eine Frage, über die es erlaubt ist, anders zu denken, als der Maire
von Hyeres. Von diesem zweifelhaften Punkte jedoch abgesehen, hat derselbe
das Wesen des Verstorbenen treffend bezeichnet. Denn in der That kann
Michelet in gewissem Sinne als vollkommenste Verkörperung des französischen
Nationalgenius bezeichnet werden. In seiner feurigen, leicht beweglichen, da¬
bei aber doch mit einer zähen Consequenz und Willensstärke ausgestatteten
Natur vereinigen sich mit den großen Vorzügen auch die großen Mängel des
französischen, man möchte sagen des gallischen Nationalcharakters, von dem er
im Eingange seiner französischen Geschichte ein so lebendiges Bild entworfen,
und der in allen großen Katastrophen in wunderbarer Bewährung seiner
Lebenskraft bis in die neueste Zeit hinein die über den gallischen Boden ge¬
lagerten römischen und germanischen Schichten durchbrochen hat und von Zeit
zu Zeit in ursprünglicher Wildheit wie eine fremdartige Erscheinung aus
längst vergangenen Jahrhunderten auf die Weltbühne zurückgekehrt ist. Grade
für die gallischen Züge im französischen Nationalcharakter hat Michelet die
wärmsten Sympathien, eine fast zärtliche Zuneigung, ohne jedoch zu den
fanatischen Gallomanen zu gehören, welche die Einwirkung fremder Elemente
bei der Bildung der französischen Nationalität am liebsten ohne Weiteres ab¬
leugnen möchten. Michelet erkennt an, daß eine Mischung stattgefunden hat,
und daß aus derselben eine neue Race hervorgegangen ist. Aber nichtsdesto¬
weniger ist dem Franzosen, wie er zumal in seinen kleineren halb social-
Politischen, halb dichterischen Schriften ihn schildert, das echt gallische Gepräge


Grenzboten lit. 1874. 5et
Jules Michelet.
i.

Anfangs Februar dieses Jahres starb auf einer der Hyerischen Inseln,
wo er Heilung von schweren körperlichen Leiden gesucht hatte, Jules Michelet,
im Alter von über 75 Jahren (geboren 1798 zu Paris). Bei seiner Leichen¬
feier sprach der Maire von Hyeres die Worte: „Ich lege diesen Kranz auf
den Sarg des Mannes, welcher der vollkommenste Ausdruck des französischen
Nationalgenies gewesen ist. Er hat die Vergangenheit unserer Geschichte
wieder aufleben lassen, um unsere künftige Wiedergeburt vorzubereiten."

Wie weit Michelet zu der künftigen Wiedergeburt Frankreichs mitgewirkt
hat, ist eine Frage, über die es erlaubt ist, anders zu denken, als der Maire
von Hyeres. Von diesem zweifelhaften Punkte jedoch abgesehen, hat derselbe
das Wesen des Verstorbenen treffend bezeichnet. Denn in der That kann
Michelet in gewissem Sinne als vollkommenste Verkörperung des französischen
Nationalgenius bezeichnet werden. In seiner feurigen, leicht beweglichen, da¬
bei aber doch mit einer zähen Consequenz und Willensstärke ausgestatteten
Natur vereinigen sich mit den großen Vorzügen auch die großen Mängel des
französischen, man möchte sagen des gallischen Nationalcharakters, von dem er
im Eingange seiner französischen Geschichte ein so lebendiges Bild entworfen,
und der in allen großen Katastrophen in wunderbarer Bewährung seiner
Lebenskraft bis in die neueste Zeit hinein die über den gallischen Boden ge¬
lagerten römischen und germanischen Schichten durchbrochen hat und von Zeit
zu Zeit in ursprünglicher Wildheit wie eine fremdartige Erscheinung aus
längst vergangenen Jahrhunderten auf die Weltbühne zurückgekehrt ist. Grade
für die gallischen Züge im französischen Nationalcharakter hat Michelet die
wärmsten Sympathien, eine fast zärtliche Zuneigung, ohne jedoch zu den
fanatischen Gallomanen zu gehören, welche die Einwirkung fremder Elemente
bei der Bildung der französischen Nationalität am liebsten ohne Weiteres ab¬
leugnen möchten. Michelet erkennt an, daß eine Mischung stattgefunden hat,
und daß aus derselben eine neue Race hervorgegangen ist. Aber nichtsdesto¬
weniger ist dem Franzosen, wie er zumal in seinen kleineren halb social-
Politischen, halb dichterischen Schriften ihn schildert, das echt gallische Gepräge


Grenzboten lit. 1874. 5et
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[0449] Jules Michelet. i. Anfangs Februar dieses Jahres starb auf einer der Hyerischen Inseln, wo er Heilung von schweren körperlichen Leiden gesucht hatte, Jules Michelet, im Alter von über 75 Jahren (geboren 1798 zu Paris). Bei seiner Leichen¬ feier sprach der Maire von Hyeres die Worte: „Ich lege diesen Kranz auf den Sarg des Mannes, welcher der vollkommenste Ausdruck des französischen Nationalgenies gewesen ist. Er hat die Vergangenheit unserer Geschichte wieder aufleben lassen, um unsere künftige Wiedergeburt vorzubereiten." Wie weit Michelet zu der künftigen Wiedergeburt Frankreichs mitgewirkt hat, ist eine Frage, über die es erlaubt ist, anders zu denken, als der Maire von Hyeres. Von diesem zweifelhaften Punkte jedoch abgesehen, hat derselbe das Wesen des Verstorbenen treffend bezeichnet. Denn in der That kann Michelet in gewissem Sinne als vollkommenste Verkörperung des französischen Nationalgenius bezeichnet werden. In seiner feurigen, leicht beweglichen, da¬ bei aber doch mit einer zähen Consequenz und Willensstärke ausgestatteten Natur vereinigen sich mit den großen Vorzügen auch die großen Mängel des französischen, man möchte sagen des gallischen Nationalcharakters, von dem er im Eingange seiner französischen Geschichte ein so lebendiges Bild entworfen, und der in allen großen Katastrophen in wunderbarer Bewährung seiner Lebenskraft bis in die neueste Zeit hinein die über den gallischen Boden ge¬ lagerten römischen und germanischen Schichten durchbrochen hat und von Zeit zu Zeit in ursprünglicher Wildheit wie eine fremdartige Erscheinung aus längst vergangenen Jahrhunderten auf die Weltbühne zurückgekehrt ist. Grade für die gallischen Züge im französischen Nationalcharakter hat Michelet die wärmsten Sympathien, eine fast zärtliche Zuneigung, ohne jedoch zu den fanatischen Gallomanen zu gehören, welche die Einwirkung fremder Elemente bei der Bildung der französischen Nationalität am liebsten ohne Weiteres ab¬ leugnen möchten. Michelet erkennt an, daß eine Mischung stattgefunden hat, und daß aus derselben eine neue Race hervorgegangen ist. Aber nichtsdesto¬ weniger ist dem Franzosen, wie er zumal in seinen kleineren halb social- Politischen, halb dichterischen Schriften ihn schildert, das echt gallische Gepräge Grenzboten lit. 1874. 5et

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 33, 1874, II. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341819_359152/449>, abgerufen am 06.05.2024.