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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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MMche Keisegtossen.
ii.

Wer gesunde Gliedmaßen und Zeit hat, scheint mir eine unverzeihliche
Sünde zu begehen, wenn er sich im Hochgebirge irgend eines andern Fort¬
bewegungsapparates bedient, als seiner eigenen Beine. Man kann indeß seine
guten Gründe haben, auch eine anziehende Gegend möglichst schnell zu durch¬
reisen. In diesem Fall bieten die schweizerischen Postwagen mit ihrem er¬
habenen Anhängsel, "Banket" oder auch "Jmperiale" genannt, eine vor¬
treffliche Einrichtung. Ein Privatwagen, und wäre er noch so bequem ein¬
gerichtet, hat neben den gepfefferter Preisen immer die Schattenseite, daß
einem die Aussicht nach vorn durch die volle Breite des Kutscherrückens ver¬
sperrt wird; hier schwebt man frei in den Lüften, den Blick nach keiner Seite
gehemmt. Im Sommer pflegt um diese zwei einzigen Plätze an den Post-
stationen nicht selten ein gelinder Krieg Aller gegen Alle zu entbrennen; im
Herbst werden sie Euch von Niemandem streitig gemacht. In der That, es
kostet eine kleine Ueberwindung, in frostiger Morgendämmerung da hinauf¬
zuklettern. Der Zephyr fächelt einem gar barsch die Wangen; man zieht die
Reisedecke bis an's Kinn herauf und klappt den Rockkragen über die Ohren;
das Tempo, in welchem das Fahrzeug die steilen Windungen hinaufschleicht,
bringt einen allmählich in Verzweiflung. Aber endlich ist die Paßhöhe er¬
reicht. Im Hospiz erwärmen wir unsern erstarrten Leichnam von außen und
innen, und nun beginnt die lustige Fahrt zu Thal. Eben kommt die Sonne
über die Bergesspitzen, der frischgefallene Schnee glitzert und funkelt zwischen
wildzerklüftetem schwarzen Gestein, ein einsamer Waidmann schreitet auf
schwindligen Pfade zur Gemsjagd. Der Postillon mahnt seine Rosse mit
gellendem Weckruf, schwingt seine lange Peitsche im Kreise, daß sie Dir
zischend vor der Nase vorbeisaust, und fort geht's in rastlosem Trabe, haar¬
scharf den düstern Abgrund entlang, als ob es ein Kinderspiel wäre.

Die Sicherheit und Eleganz, mit welcher die schweizerischen Postkutscher
ihr Fünfgespann lenken, hat etwas Ehrfurchtgebietendes. Unglücksfälle sind
auf den dortigen Posttouren verhältnißmäßig selten, und noch seltener sind
sie die Schuld des Kutschers. In frischer Erinnerung ist der traurige Fall,
der im letzten Sommer im Prättigau zwischen Mezzaselva und Klosters einem
jungen Mediciner das Leben und verschiedenen Anderen die gesunden Glieder
kostete. Noch im Herbst stritt man darüber, ob der Postillon oder der ent¬
gegenkommende Holzwagen oder der Steinhaufen am Rande der Straße das
Unglück verursacht haben. Mir dünkt, alle drei sind freizusprechen und die
Schuld fällt allein aus die beispiellose Schmalheit der Straße. Dieser Uebel-


MMche Keisegtossen.
ii.

Wer gesunde Gliedmaßen und Zeit hat, scheint mir eine unverzeihliche
Sünde zu begehen, wenn er sich im Hochgebirge irgend eines andern Fort¬
bewegungsapparates bedient, als seiner eigenen Beine. Man kann indeß seine
guten Gründe haben, auch eine anziehende Gegend möglichst schnell zu durch¬
reisen. In diesem Fall bieten die schweizerischen Postwagen mit ihrem er¬
habenen Anhängsel, „Banket" oder auch „Jmperiale" genannt, eine vor¬
treffliche Einrichtung. Ein Privatwagen, und wäre er noch so bequem ein¬
gerichtet, hat neben den gepfefferter Preisen immer die Schattenseite, daß
einem die Aussicht nach vorn durch die volle Breite des Kutscherrückens ver¬
sperrt wird; hier schwebt man frei in den Lüften, den Blick nach keiner Seite
gehemmt. Im Sommer pflegt um diese zwei einzigen Plätze an den Post-
stationen nicht selten ein gelinder Krieg Aller gegen Alle zu entbrennen; im
Herbst werden sie Euch von Niemandem streitig gemacht. In der That, es
kostet eine kleine Ueberwindung, in frostiger Morgendämmerung da hinauf¬
zuklettern. Der Zephyr fächelt einem gar barsch die Wangen; man zieht die
Reisedecke bis an's Kinn herauf und klappt den Rockkragen über die Ohren;
das Tempo, in welchem das Fahrzeug die steilen Windungen hinaufschleicht,
bringt einen allmählich in Verzweiflung. Aber endlich ist die Paßhöhe er¬
reicht. Im Hospiz erwärmen wir unsern erstarrten Leichnam von außen und
innen, und nun beginnt die lustige Fahrt zu Thal. Eben kommt die Sonne
über die Bergesspitzen, der frischgefallene Schnee glitzert und funkelt zwischen
wildzerklüftetem schwarzen Gestein, ein einsamer Waidmann schreitet auf
schwindligen Pfade zur Gemsjagd. Der Postillon mahnt seine Rosse mit
gellendem Weckruf, schwingt seine lange Peitsche im Kreise, daß sie Dir
zischend vor der Nase vorbeisaust, und fort geht's in rastlosem Trabe, haar¬
scharf den düstern Abgrund entlang, als ob es ein Kinderspiel wäre.

Die Sicherheit und Eleganz, mit welcher die schweizerischen Postkutscher
ihr Fünfgespann lenken, hat etwas Ehrfurchtgebietendes. Unglücksfälle sind
auf den dortigen Posttouren verhältnißmäßig selten, und noch seltener sind
sie die Schuld des Kutschers. In frischer Erinnerung ist der traurige Fall,
der im letzten Sommer im Prättigau zwischen Mezzaselva und Klosters einem
jungen Mediciner das Leben und verschiedenen Anderen die gesunden Glieder
kostete. Noch im Herbst stritt man darüber, ob der Postillon oder der ent¬
gegenkommende Holzwagen oder der Steinhaufen am Rande der Straße das
Unglück verursacht haben. Mir dünkt, alle drei sind freizusprechen und die
Schuld fällt allein aus die beispiellose Schmalheit der Straße. Dieser Uebel-


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[0401] MMche Keisegtossen. ii. Wer gesunde Gliedmaßen und Zeit hat, scheint mir eine unverzeihliche Sünde zu begehen, wenn er sich im Hochgebirge irgend eines andern Fort¬ bewegungsapparates bedient, als seiner eigenen Beine. Man kann indeß seine guten Gründe haben, auch eine anziehende Gegend möglichst schnell zu durch¬ reisen. In diesem Fall bieten die schweizerischen Postwagen mit ihrem er¬ habenen Anhängsel, „Banket" oder auch „Jmperiale" genannt, eine vor¬ treffliche Einrichtung. Ein Privatwagen, und wäre er noch so bequem ein¬ gerichtet, hat neben den gepfefferter Preisen immer die Schattenseite, daß einem die Aussicht nach vorn durch die volle Breite des Kutscherrückens ver¬ sperrt wird; hier schwebt man frei in den Lüften, den Blick nach keiner Seite gehemmt. Im Sommer pflegt um diese zwei einzigen Plätze an den Post- stationen nicht selten ein gelinder Krieg Aller gegen Alle zu entbrennen; im Herbst werden sie Euch von Niemandem streitig gemacht. In der That, es kostet eine kleine Ueberwindung, in frostiger Morgendämmerung da hinauf¬ zuklettern. Der Zephyr fächelt einem gar barsch die Wangen; man zieht die Reisedecke bis an's Kinn herauf und klappt den Rockkragen über die Ohren; das Tempo, in welchem das Fahrzeug die steilen Windungen hinaufschleicht, bringt einen allmählich in Verzweiflung. Aber endlich ist die Paßhöhe er¬ reicht. Im Hospiz erwärmen wir unsern erstarrten Leichnam von außen und innen, und nun beginnt die lustige Fahrt zu Thal. Eben kommt die Sonne über die Bergesspitzen, der frischgefallene Schnee glitzert und funkelt zwischen wildzerklüftetem schwarzen Gestein, ein einsamer Waidmann schreitet auf schwindligen Pfade zur Gemsjagd. Der Postillon mahnt seine Rosse mit gellendem Weckruf, schwingt seine lange Peitsche im Kreise, daß sie Dir zischend vor der Nase vorbeisaust, und fort geht's in rastlosem Trabe, haar¬ scharf den düstern Abgrund entlang, als ob es ein Kinderspiel wäre. Die Sicherheit und Eleganz, mit welcher die schweizerischen Postkutscher ihr Fünfgespann lenken, hat etwas Ehrfurchtgebietendes. Unglücksfälle sind auf den dortigen Posttouren verhältnißmäßig selten, und noch seltener sind sie die Schuld des Kutschers. In frischer Erinnerung ist der traurige Fall, der im letzten Sommer im Prättigau zwischen Mezzaselva und Klosters einem jungen Mediciner das Leben und verschiedenen Anderen die gesunden Glieder kostete. Noch im Herbst stritt man darüber, ob der Postillon oder der ent¬ gegenkommende Holzwagen oder der Steinhaufen am Rande der Straße das Unglück verursacht haben. Mir dünkt, alle drei sind freizusprechen und die Schuld fällt allein aus die beispiellose Schmalheit der Straße. Dieser Uebel-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/401>, abgerufen am 29.04.2024.