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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Die Anhänger des Schwurgerichts in Preßsachen sprachen in maßvoller
Weise, aber durchaus vom Standpunkt des vormärzltchen Liberalismus. Der
Richterstand sei unfähig zur Rechtsprechung über die Presse, weil er einen
Theil der Regierung bildet, welche der Presse gegenüber stets Partei ist. --
Als ob die Geschworenen nicht auch Partei sein könnten. Die Argumentation
verkennt ganz und gar, daß wir in eine neue Entwicklung des Staats und der
Gesellschaft eingetreten. Alle Staaten, welche die Oeffentlichkeit des Staats¬
lebens und die wirksame Betheiligung des Volks am Staate erobert haben,
durchlaufen ein Stadium mit der Presse, wenn dieselbe durch tausend Gewichte
zum gemeingefährlichen Gewerbe herabgezogen wird. Ob diese Entartung
am besten durch das Schwurgericht zu verhindern ist, möchte mehr als frag¬
lich sein.

Ihr Berichterstatter ist überzeugt, daß die Zuständigkeit der Schwur¬
gerichte in Preßsachen außerordentlich viel beitragen würde, das Institut der
Schwurgerichte überhaupt zu discreditiren. Insofern könnte ein Gegner
dieser Einrichtung den Reichstagsbeschluß vom 22. November begrüßen.
Außerdem werden neben ungerechtfertigten Freisprechungen auch ungerecht¬
fertigte Verurtheilungen von Preßvergehen durch die Geschwornen vorkommen-
Da einstweilen auch die Berufsrichter den Preßvergehen gegenüber noch so
wenig eine feste Linie gewonnen haben, daß auch hier unglaubliche Frei¬
sprechungen vorkommen neben auffallenden Verurtheilungen, so wird die Zu¬
ständigkeit der Schwurgerichte die gegenwärtigen Uebelstände nicht sehr ver¬
schlimmern. Aber sie wird die Heilung unmöglich machen, und das ist das
schlimmste Uebel, wenn nicht der Erfolg eintritt, das ganze Institut der
Geschworenen durch ein besseres zu beseitigen. --

Auch der Beschluß vom 22. November bezüglich der Zuständigkeit der
Geschworenen in Preßsachen würde für sich allein das Gesetz über die
Gerichtsverfassung nicht zum Scheitern bringen. Aber in Verbindung mit
den übrigen beschwerenden Beschlüssen steht allerdings zu befürchten, daß es
das Schifflein zum Untersinken bringt. Die gestrige Berathung des Ein-
führungsgesetzes zur Gerichtsverfassung mit den gefaßten Beschlüssen hat nun
gar, wenn der Ausdruck gestattet ist, dem Faß den Boden ausgeschlagen,
oder, um zu dem ersten Bilde zurückzukehren, in das Schiff ein Leck gestoßen-
Ein weiteres Eingehen auf die gestrige Sitzung behalte ich dem nächsten
0 -- r. Briefe vor.




Die Anhänger des Schwurgerichts in Preßsachen sprachen in maßvoller
Weise, aber durchaus vom Standpunkt des vormärzltchen Liberalismus. Der
Richterstand sei unfähig zur Rechtsprechung über die Presse, weil er einen
Theil der Regierung bildet, welche der Presse gegenüber stets Partei ist. —
Als ob die Geschworenen nicht auch Partei sein könnten. Die Argumentation
verkennt ganz und gar, daß wir in eine neue Entwicklung des Staats und der
Gesellschaft eingetreten. Alle Staaten, welche die Oeffentlichkeit des Staats¬
lebens und die wirksame Betheiligung des Volks am Staate erobert haben,
durchlaufen ein Stadium mit der Presse, wenn dieselbe durch tausend Gewichte
zum gemeingefährlichen Gewerbe herabgezogen wird. Ob diese Entartung
am besten durch das Schwurgericht zu verhindern ist, möchte mehr als frag¬
lich sein.

Ihr Berichterstatter ist überzeugt, daß die Zuständigkeit der Schwur¬
gerichte in Preßsachen außerordentlich viel beitragen würde, das Institut der
Schwurgerichte überhaupt zu discreditiren. Insofern könnte ein Gegner
dieser Einrichtung den Reichstagsbeschluß vom 22. November begrüßen.
Außerdem werden neben ungerechtfertigten Freisprechungen auch ungerecht¬
fertigte Verurtheilungen von Preßvergehen durch die Geschwornen vorkommen-
Da einstweilen auch die Berufsrichter den Preßvergehen gegenüber noch so
wenig eine feste Linie gewonnen haben, daß auch hier unglaubliche Frei¬
sprechungen vorkommen neben auffallenden Verurtheilungen, so wird die Zu¬
ständigkeit der Schwurgerichte die gegenwärtigen Uebelstände nicht sehr ver¬
schlimmern. Aber sie wird die Heilung unmöglich machen, und das ist das
schlimmste Uebel, wenn nicht der Erfolg eintritt, das ganze Institut der
Geschworenen durch ein besseres zu beseitigen. —

Auch der Beschluß vom 22. November bezüglich der Zuständigkeit der
Geschworenen in Preßsachen würde für sich allein das Gesetz über die
Gerichtsverfassung nicht zum Scheitern bringen. Aber in Verbindung mit
den übrigen beschwerenden Beschlüssen steht allerdings zu befürchten, daß es
das Schifflein zum Untersinken bringt. Die gestrige Berathung des Ein-
führungsgesetzes zur Gerichtsverfassung mit den gefaßten Beschlüssen hat nun
gar, wenn der Ausdruck gestattet ist, dem Faß den Boden ausgeschlagen,
oder, um zu dem ersten Bilde zurückzukehren, in das Schiff ein Leck gestoßen-
Ein weiteres Eingehen auf die gestrige Sitzung behalte ich dem nächsten
0 — r. Briefe vor.




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[0400] Die Anhänger des Schwurgerichts in Preßsachen sprachen in maßvoller Weise, aber durchaus vom Standpunkt des vormärzltchen Liberalismus. Der Richterstand sei unfähig zur Rechtsprechung über die Presse, weil er einen Theil der Regierung bildet, welche der Presse gegenüber stets Partei ist. — Als ob die Geschworenen nicht auch Partei sein könnten. Die Argumentation verkennt ganz und gar, daß wir in eine neue Entwicklung des Staats und der Gesellschaft eingetreten. Alle Staaten, welche die Oeffentlichkeit des Staats¬ lebens und die wirksame Betheiligung des Volks am Staate erobert haben, durchlaufen ein Stadium mit der Presse, wenn dieselbe durch tausend Gewichte zum gemeingefährlichen Gewerbe herabgezogen wird. Ob diese Entartung am besten durch das Schwurgericht zu verhindern ist, möchte mehr als frag¬ lich sein. Ihr Berichterstatter ist überzeugt, daß die Zuständigkeit der Schwur¬ gerichte in Preßsachen außerordentlich viel beitragen würde, das Institut der Schwurgerichte überhaupt zu discreditiren. Insofern könnte ein Gegner dieser Einrichtung den Reichstagsbeschluß vom 22. November begrüßen. Außerdem werden neben ungerechtfertigten Freisprechungen auch ungerecht¬ fertigte Verurtheilungen von Preßvergehen durch die Geschwornen vorkommen- Da einstweilen auch die Berufsrichter den Preßvergehen gegenüber noch so wenig eine feste Linie gewonnen haben, daß auch hier unglaubliche Frei¬ sprechungen vorkommen neben auffallenden Verurtheilungen, so wird die Zu¬ ständigkeit der Schwurgerichte die gegenwärtigen Uebelstände nicht sehr ver¬ schlimmern. Aber sie wird die Heilung unmöglich machen, und das ist das schlimmste Uebel, wenn nicht der Erfolg eintritt, das ganze Institut der Geschworenen durch ein besseres zu beseitigen. — Auch der Beschluß vom 22. November bezüglich der Zuständigkeit der Geschworenen in Preßsachen würde für sich allein das Gesetz über die Gerichtsverfassung nicht zum Scheitern bringen. Aber in Verbindung mit den übrigen beschwerenden Beschlüssen steht allerdings zu befürchten, daß es das Schifflein zum Untersinken bringt. Die gestrige Berathung des Ein- führungsgesetzes zur Gerichtsverfassung mit den gefaßten Beschlüssen hat nun gar, wenn der Ausdruck gestattet ist, dem Faß den Boden ausgeschlagen, oder, um zu dem ersten Bilde zurückzukehren, in das Schiff ein Leck gestoßen- Ein weiteres Eingehen auf die gestrige Sitzung behalte ich dem nächsten 0 — r. Briefe vor.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/400>, abgerufen am 16.05.2024.