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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Die Sage vom Aing des Mylirates.

Wie sehr viele Sagen, welche sich an bestimmte Personen und Oertlich-
keiten knüpfen und in dieser Gestalt als Geschichte auftreten, aber nichts
weniger als geschichtlich sind, sondern den Kern einer Mythe einschließen, die
bis in die arische Urzeit, also bis in die Zeit vor der Völkerwanderung,
welche die Inder von den Germanen schied, hinaufreicht, und die sich in den
verschiedensten Ländern mit verschiedener Zuthat zwar, aber im Wesentlichen
ähnlich wieder findet, so hat auch die bekannte Erzählung vom Ringe des
Polykrates eine Menge von Seitenstücken, die. größtentheils wenigstens, nicht
nach und aus ihr, sondern neben und vor ihr entstanden sind. Wie die
Sage vom Kampf mit dem Drachen im Norden und im Süden, auf heiligem
Legendenboden und auf eddischen, also heidnischem Gebiete spielt, wie es
neben dem schweizerischen Tell einen rheinischen, einen norwegischen, einen
keltischen, einen esthnischen, ja einen persischen giebt, die allesammt älter als
jener sind, wie neben den Erzählungen von Ludwig dem Springer oder
der vom Ritter Harras eine große Anzahl nahe verwandter Sagen stehen,
ganz eben so verhält es sich mit dem Ringe des Königs von Samos, der
of Meer geworfen und unerwartet in einem Fische wieder gefunden wird.
Nur die Einkleidung, der Ton. die Moral ist bei diesen Pendants
eine andere als bei der Version, welche Herodot sich auf Samos vollziehen
läßt. Hören wir erst diese, und vergleichen wir dann die andern
Mit ihr.

Amasts, der König von A egypten. schickte an den Tyrannen Polykrates,
nachdem dieser die Herrschaft über Samos erlangt. einen freundschaftlichen
Brief, in welchem er seine Befürchtung aussprach, daß das ungewöhnliche
Glück, welches dieser bisher gehabt, nicht dauerhaft sein werde, da er noch
"le erlebt, daß solches Gelingen aller Wünsche und Pläne nicht zuletzt mit
Unglück geendigt habe. Er knüpfte daran den Rath, sein Freund möge ein
ihm besonders werthes Kleinod in einer Weise wegwerfen, daß es ihm nie


Grenzboten IV. 1876. 61
Die Sage vom Aing des Mylirates.

Wie sehr viele Sagen, welche sich an bestimmte Personen und Oertlich-
keiten knüpfen und in dieser Gestalt als Geschichte auftreten, aber nichts
weniger als geschichtlich sind, sondern den Kern einer Mythe einschließen, die
bis in die arische Urzeit, also bis in die Zeit vor der Völkerwanderung,
welche die Inder von den Germanen schied, hinaufreicht, und die sich in den
verschiedensten Ländern mit verschiedener Zuthat zwar, aber im Wesentlichen
ähnlich wieder findet, so hat auch die bekannte Erzählung vom Ringe des
Polykrates eine Menge von Seitenstücken, die. größtentheils wenigstens, nicht
nach und aus ihr, sondern neben und vor ihr entstanden sind. Wie die
Sage vom Kampf mit dem Drachen im Norden und im Süden, auf heiligem
Legendenboden und auf eddischen, also heidnischem Gebiete spielt, wie es
neben dem schweizerischen Tell einen rheinischen, einen norwegischen, einen
keltischen, einen esthnischen, ja einen persischen giebt, die allesammt älter als
jener sind, wie neben den Erzählungen von Ludwig dem Springer oder
der vom Ritter Harras eine große Anzahl nahe verwandter Sagen stehen,
ganz eben so verhält es sich mit dem Ringe des Königs von Samos, der
of Meer geworfen und unerwartet in einem Fische wieder gefunden wird.
Nur die Einkleidung, der Ton. die Moral ist bei diesen Pendants
eine andere als bei der Version, welche Herodot sich auf Samos vollziehen
läßt. Hören wir erst diese, und vergleichen wir dann die andern
Mit ihr.

Amasts, der König von A egypten. schickte an den Tyrannen Polykrates,
nachdem dieser die Herrschaft über Samos erlangt. einen freundschaftlichen
Brief, in welchem er seine Befürchtung aussprach, daß das ungewöhnliche
Glück, welches dieser bisher gehabt, nicht dauerhaft sein werde, da er noch
"le erlebt, daß solches Gelingen aller Wünsche und Pläne nicht zuletzt mit
Unglück geendigt habe. Er knüpfte daran den Rath, sein Freund möge ein
ihm besonders werthes Kleinod in einer Weise wegwerfen, daß es ihm nie


Grenzboten IV. 1876. 61
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[0485] Die Sage vom Aing des Mylirates. Wie sehr viele Sagen, welche sich an bestimmte Personen und Oertlich- keiten knüpfen und in dieser Gestalt als Geschichte auftreten, aber nichts weniger als geschichtlich sind, sondern den Kern einer Mythe einschließen, die bis in die arische Urzeit, also bis in die Zeit vor der Völkerwanderung, welche die Inder von den Germanen schied, hinaufreicht, und die sich in den verschiedensten Ländern mit verschiedener Zuthat zwar, aber im Wesentlichen ähnlich wieder findet, so hat auch die bekannte Erzählung vom Ringe des Polykrates eine Menge von Seitenstücken, die. größtentheils wenigstens, nicht nach und aus ihr, sondern neben und vor ihr entstanden sind. Wie die Sage vom Kampf mit dem Drachen im Norden und im Süden, auf heiligem Legendenboden und auf eddischen, also heidnischem Gebiete spielt, wie es neben dem schweizerischen Tell einen rheinischen, einen norwegischen, einen keltischen, einen esthnischen, ja einen persischen giebt, die allesammt älter als jener sind, wie neben den Erzählungen von Ludwig dem Springer oder der vom Ritter Harras eine große Anzahl nahe verwandter Sagen stehen, ganz eben so verhält es sich mit dem Ringe des Königs von Samos, der of Meer geworfen und unerwartet in einem Fische wieder gefunden wird. Nur die Einkleidung, der Ton. die Moral ist bei diesen Pendants eine andere als bei der Version, welche Herodot sich auf Samos vollziehen läßt. Hören wir erst diese, und vergleichen wir dann die andern Mit ihr. Amasts, der König von A egypten. schickte an den Tyrannen Polykrates, nachdem dieser die Herrschaft über Samos erlangt. einen freundschaftlichen Brief, in welchem er seine Befürchtung aussprach, daß das ungewöhnliche Glück, welches dieser bisher gehabt, nicht dauerhaft sein werde, da er noch "le erlebt, daß solches Gelingen aller Wünsche und Pläne nicht zuletzt mit Unglück geendigt habe. Er knüpfte daran den Rath, sein Freund möge ein ihm besonders werthes Kleinod in einer Weise wegwerfen, daß es ihm nie Grenzboten IV. 1876. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/485>, abgerufen am 29.04.2024.