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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Are Mythe von Wilhelm Hell,
i.

Teil und Geßler in Sage und Geschichte. Nach urkundlichen Quellen von
E. L. Rochholz. Heilbronn, Verlag von Henninger 1877.

Daß die Erzählung von Tell's Apfelschusse und der Ermordung des
Vogts Geßler durch ihn in allen Stücken aus einer Mythe der arischen Ur¬
zeit beruht, ist schon längst behauptet, seit geraumer Zeit von der ernsten
Sagenforschung und Geschichtsschreibung anerkannt und nur von Wenigen
noch heute bestritten. Gleichwohl ist das vorliegende Buch mit seiner über¬
aus gründlichen, bisweilen gar zu gründlichen und in Folge dessen breiten
Behandlung des Gegenstandes willkommen zu heißen. Niemand kann nach
den Ausführungen dieser mit ebenso viel Fleiß als Scharfsinn gearbeiteten
Monographie noch ernsthaft und mit gutem Gewissen meinen, daß ein Tell
und ein Geßler, wie sie in den alten schweizerischen Tellschauspielen leben,
und wie Schiller sie uns vorgeführt, jemals als geschichtliche Personen existirt
haben, und die Schweizer können sich dazu Glück wünschen, da der Anfang
ihrer Freiheit jetzt nicht mehr durch einen Meuchelmord befleckt ist. Da
unserer Erfahrung nach auch unter Leuten von sonst guter Bildung die
wissenschaftlichen Untersuchungen in Betreff der Tellssage und deren Ergeb-
nisse weniger als wünschenswert!) bekannt sind, so glauben wir nichts Ueber-
flüssiges und Unnützes zu thun, wenn wir einen ausführlichen Auszug aus
der ersten und einige Resultate der zweiten Hälfte der Rochholz'schen Schrift
folgen lassen. Zu jenem möge im Boraus bemerkt sein, daß die Sage von
dem Apfelschusse vor einem tyrannischen Herrscher auch im Völkerkreise der
Kelten und zwar unter den Kymren von Wales vorkommt.

Das Ergebniß unseres Buches lautet: Die Namen Tell und Geßler
sind geschichtlich unvereinbar. Jener bezeichnet eine den verschiedensten Völkern
schon im frühen Mittelalter bekannte Naturmythe, dieser aber erscheint erst


Gvenzlwlen IV. 1871!. 11
Are Mythe von Wilhelm Hell,
i.

Teil und Geßler in Sage und Geschichte. Nach urkundlichen Quellen von
E. L. Rochholz. Heilbronn, Verlag von Henninger 1877.

Daß die Erzählung von Tell's Apfelschusse und der Ermordung des
Vogts Geßler durch ihn in allen Stücken aus einer Mythe der arischen Ur¬
zeit beruht, ist schon längst behauptet, seit geraumer Zeit von der ernsten
Sagenforschung und Geschichtsschreibung anerkannt und nur von Wenigen
noch heute bestritten. Gleichwohl ist das vorliegende Buch mit seiner über¬
aus gründlichen, bisweilen gar zu gründlichen und in Folge dessen breiten
Behandlung des Gegenstandes willkommen zu heißen. Niemand kann nach
den Ausführungen dieser mit ebenso viel Fleiß als Scharfsinn gearbeiteten
Monographie noch ernsthaft und mit gutem Gewissen meinen, daß ein Tell
und ein Geßler, wie sie in den alten schweizerischen Tellschauspielen leben,
und wie Schiller sie uns vorgeführt, jemals als geschichtliche Personen existirt
haben, und die Schweizer können sich dazu Glück wünschen, da der Anfang
ihrer Freiheit jetzt nicht mehr durch einen Meuchelmord befleckt ist. Da
unserer Erfahrung nach auch unter Leuten von sonst guter Bildung die
wissenschaftlichen Untersuchungen in Betreff der Tellssage und deren Ergeb-
nisse weniger als wünschenswert!) bekannt sind, so glauben wir nichts Ueber-
flüssiges und Unnützes zu thun, wenn wir einen ausführlichen Auszug aus
der ersten und einige Resultate der zweiten Hälfte der Rochholz'schen Schrift
folgen lassen. Zu jenem möge im Boraus bemerkt sein, daß die Sage von
dem Apfelschusse vor einem tyrannischen Herrscher auch im Völkerkreise der
Kelten und zwar unter den Kymren von Wales vorkommt.

Das Ergebniß unseres Buches lautet: Die Namen Tell und Geßler
sind geschichtlich unvereinbar. Jener bezeichnet eine den verschiedensten Völkern
schon im frühen Mittelalter bekannte Naturmythe, dieser aber erscheint erst


Gvenzlwlen IV. 1871!. 11
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[0085] Are Mythe von Wilhelm Hell, i. Teil und Geßler in Sage und Geschichte. Nach urkundlichen Quellen von E. L. Rochholz. Heilbronn, Verlag von Henninger 1877. Daß die Erzählung von Tell's Apfelschusse und der Ermordung des Vogts Geßler durch ihn in allen Stücken aus einer Mythe der arischen Ur¬ zeit beruht, ist schon längst behauptet, seit geraumer Zeit von der ernsten Sagenforschung und Geschichtsschreibung anerkannt und nur von Wenigen noch heute bestritten. Gleichwohl ist das vorliegende Buch mit seiner über¬ aus gründlichen, bisweilen gar zu gründlichen und in Folge dessen breiten Behandlung des Gegenstandes willkommen zu heißen. Niemand kann nach den Ausführungen dieser mit ebenso viel Fleiß als Scharfsinn gearbeiteten Monographie noch ernsthaft und mit gutem Gewissen meinen, daß ein Tell und ein Geßler, wie sie in den alten schweizerischen Tellschauspielen leben, und wie Schiller sie uns vorgeführt, jemals als geschichtliche Personen existirt haben, und die Schweizer können sich dazu Glück wünschen, da der Anfang ihrer Freiheit jetzt nicht mehr durch einen Meuchelmord befleckt ist. Da unserer Erfahrung nach auch unter Leuten von sonst guter Bildung die wissenschaftlichen Untersuchungen in Betreff der Tellssage und deren Ergeb- nisse weniger als wünschenswert!) bekannt sind, so glauben wir nichts Ueber- flüssiges und Unnützes zu thun, wenn wir einen ausführlichen Auszug aus der ersten und einige Resultate der zweiten Hälfte der Rochholz'schen Schrift folgen lassen. Zu jenem möge im Boraus bemerkt sein, daß die Sage von dem Apfelschusse vor einem tyrannischen Herrscher auch im Völkerkreise der Kelten und zwar unter den Kymren von Wales vorkommt. Das Ergebniß unseres Buches lautet: Die Namen Tell und Geßler sind geschichtlich unvereinbar. Jener bezeichnet eine den verschiedensten Völkern schon im frühen Mittelalter bekannte Naturmythe, dieser aber erscheint erst Gvenzlwlen IV. 1871!. 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/85>, abgerufen am 29.04.2024.