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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts und gehört lediglich dem Schwei-
zerkanton Aargau an. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der schwei¬
zerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger derselben die Rolle, welche die
Sagen von Tell ihnen zuweisen, gespielt, kein einziger einen Tell zum Gegner
gehabt hat, kein einziger von einem Tell oder einem ähnlichen Schützen ge-
tödtet worden ist. Ueberdieß aber charakterifirt sich die ganze Sage von vorn¬
herein als ungeschichtlich. "Alle Züge dieses Ereignisses", sagt H. Gelzer,
"spielen in das Land der Wunder. Gelingen in Allem, was der Held un¬
ternimmt. Er vollbringt glücklich den Apfelschuß, er allein rettet das Schiff
im Sturme, er hindert es mit einem einzigen Stoß an der Landung, er erlegt
ungefährdet den Tyrannen. Daß alle diese Züge, von denen jeder einzeln
schon des Wunderbaren genug hat, sich noch so rasch folgen, daß sie so in
ein einziges Drama verknüpft sind, verräth für Jeden, der mit der Eigen¬
thümlichkeit der Sagenbildung vertraut ist, daß hier ebenfalls die Hand der
Sage gewaltet hat."

Der Kern des Naturmythus, aus dem sich die Sage von Tell und
Geßler entwickelt hat, wird in den Volksfesten dargestellt, die in der Zeit
von den Fasten bis Pfingsten den Sieg des Lichtes über das Dunkel, des
Sommers über den Winter feiern, und von denen Rochholz eine große An¬
zahl beschreibt, die früher an verschiedenen Orten der Schweiz abgehalten
wurden. Sieben Burgen des Winters müssen nach altindischen Glauben ge¬
brochen werden -- die sieben Wintermonate von Oktober bis Mai -- und
zwar müssen sie mit Pfeilen beschossen werden, welche die Sonnenstrahlen des
Lichtgottes versinnbilden. symbolische Handlungen der Art kommen vielfach
vor. Das ursprünglichste Verfahren dabei schildert uns Gener von Kaisers¬
berg in den Mumelspiel seiner Heimath bei Schaffhausen, dem er 1352 bei-
wohnte. Man baute hier aus Bäumen und Reißig eine "Weihnachtsburg",
die dann von den Nachbarn belagert, mit Pfeilen und Bolzen aus Nüben-
schnitzen beschossen und schließlich erstürmt wurde, worauf die Bauern sich zu¬
sammensetzten und "eine ehrbare Freude mit einander hatten." Anderswo trat
der Winter als "Wilder Mann", als Bär, als Drache, als Räuberbande,
als Landesfeind u. d. auf, um schließlich überwunden und vernichtet zu wer¬
den. Ueberall war der Grundgedanke: nach langwierigem Kampfe zwischen
dem winterlichen Tyrannen und dem Helden Lenz erliegt jener den Sonnen¬
pfeilen, die dieser auf ihn abschießt.

Dieser Naturmythus, der allen arischen Völkern gemeinsam war, hat
dann in sehr alter Zeit schon ethischen Gehalt gewonnen und ist zuletzt,
gleich manchem andern, zu einem angeblich geschichtlichen Ereignisse geworden,
mit dem andere Züge aus Naturmythen sich verschmolzen. So ist die Be¬
freiung vom Winter zur Befreiung von der Herrschaft eines grausamen Mer-


in der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts und gehört lediglich dem Schwei-
zerkanton Aargau an. Aus den Urkunden der Familiengeschichte der schwei¬
zerischen Geßler geht hervor, daß kein einziger derselben die Rolle, welche die
Sagen von Tell ihnen zuweisen, gespielt, kein einziger einen Tell zum Gegner
gehabt hat, kein einziger von einem Tell oder einem ähnlichen Schützen ge-
tödtet worden ist. Ueberdieß aber charakterifirt sich die ganze Sage von vorn¬
herein als ungeschichtlich. „Alle Züge dieses Ereignisses", sagt H. Gelzer,
„spielen in das Land der Wunder. Gelingen in Allem, was der Held un¬
ternimmt. Er vollbringt glücklich den Apfelschuß, er allein rettet das Schiff
im Sturme, er hindert es mit einem einzigen Stoß an der Landung, er erlegt
ungefährdet den Tyrannen. Daß alle diese Züge, von denen jeder einzeln
schon des Wunderbaren genug hat, sich noch so rasch folgen, daß sie so in
ein einziges Drama verknüpft sind, verräth für Jeden, der mit der Eigen¬
thümlichkeit der Sagenbildung vertraut ist, daß hier ebenfalls die Hand der
Sage gewaltet hat."

Der Kern des Naturmythus, aus dem sich die Sage von Tell und
Geßler entwickelt hat, wird in den Volksfesten dargestellt, die in der Zeit
von den Fasten bis Pfingsten den Sieg des Lichtes über das Dunkel, des
Sommers über den Winter feiern, und von denen Rochholz eine große An¬
zahl beschreibt, die früher an verschiedenen Orten der Schweiz abgehalten
wurden. Sieben Burgen des Winters müssen nach altindischen Glauben ge¬
brochen werden — die sieben Wintermonate von Oktober bis Mai — und
zwar müssen sie mit Pfeilen beschossen werden, welche die Sonnenstrahlen des
Lichtgottes versinnbilden. symbolische Handlungen der Art kommen vielfach
vor. Das ursprünglichste Verfahren dabei schildert uns Gener von Kaisers¬
berg in den Mumelspiel seiner Heimath bei Schaffhausen, dem er 1352 bei-
wohnte. Man baute hier aus Bäumen und Reißig eine „Weihnachtsburg",
die dann von den Nachbarn belagert, mit Pfeilen und Bolzen aus Nüben-
schnitzen beschossen und schließlich erstürmt wurde, worauf die Bauern sich zu¬
sammensetzten und „eine ehrbare Freude mit einander hatten." Anderswo trat
der Winter als „Wilder Mann", als Bär, als Drache, als Räuberbande,
als Landesfeind u. d. auf, um schließlich überwunden und vernichtet zu wer¬
den. Ueberall war der Grundgedanke: nach langwierigem Kampfe zwischen
dem winterlichen Tyrannen und dem Helden Lenz erliegt jener den Sonnen¬
pfeilen, die dieser auf ihn abschießt.

Dieser Naturmythus, der allen arischen Völkern gemeinsam war, hat
dann in sehr alter Zeit schon ethischen Gehalt gewonnen und ist zuletzt,
gleich manchem andern, zu einem angeblich geschichtlichen Ereignisse geworden,
mit dem andere Züge aus Naturmythen sich verschmolzen. So ist die Be¬
freiung vom Winter zur Befreiung von der Herrschaft eines grausamen Mer-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/86>, abgerufen am 15.05.2024.