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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Hom Aeichstage.

Welch völlig veränderte Lage fand der Reichstag vor, als er nach zwei¬
wöchiger Osterpause am Dienstag zu seinen Geschäften zurückkehrte! Uner¬
warteter, als diese neueste "Kanzlerkrise", ist wohl selten etwas gekommen.
Alle Fragen, deren Berathung die Volksvertretung sich für die zweite Hälfte
der Session aufgespart hatte, waren gänzlich in den Hintergrund gedrängt;
so lauge die alles beherrschende Angelegenheit nicht definitiv entschieden war,
ermangelte die Situation durchaus des festen Bodens. Die verschiedensten
Gerüchte dnrchschwirrten die Luft. Wie immer, so fand auch diesmal der
einzige offiziell angegebene Grund des Bismarckschen Entlassungsgesuches, der
leidende Gesundheitszustand, am wenigsten Glauben. Fast allgemein vermuthete
man hinter dem Vorgange den Anfang eines Systemwechsels; schon gaben sich
die Einen den kühnsten Hoffnungen, die Anderen den schwärzesten Befürch¬
tungen hin. Zum mindesten wußte der Reichstag bei seinem Wiederzusammen¬
tritt schlechterdings nicht, wie er mit der Regierung eigentlich daran sei. Es
lag im allseitigen Interesse, daß dieser höchst unerquicklichen Lage schleunigst
ein Ende gemacht wurde.

Die Weise, wie dies am Mittwoch geschah, war günstiger, als man noch
einige Tage vorher erwarten konnte. Der Reichskanzler hatte auf seine Amts¬
enthebung verzichtet, und seine Beurlaubung vollzog sich in denselben Formen,
wie in früheren Fällen -- mit einem Wort: es blieb alles beim Alten. An
sich lag also ebenso wenig, wie früher, ein Grund vor, die Urlanbscmzeige des
Fürsten Bismarck im Reichstage zur Sprache zu bringen.*) Dennoch muß man
zugeben, daß unter den obwaltenden konkreten Umständen das deutsche Volk
ein vollständiges Schweigen seiner Vertretung nicht verstanden haben würde.
Jeder empfand es als widernatürlich, wenn der Reichstag ein Ereigniß, das
Deutschland und Europa anderthalb Wochen hindurch in Athem gehalten, mit
affektirter Vornehmheit ignoriren wollte.

Freilich, dasjenige, worauf die allgemeine Wißbegierde am intensivsten
gerichtet war, die Untersuchung der eigentlichen Motive des Entlassungsgesuchs,
war nach der Mittwochsmittheilung von der parlamentarischen Debatte aus-
geschlossen. Der Reichskanzler zeigte seine Beurlaubung aus Gesundheitsrück¬
sichten an; damit war den Rednern des Reichstags jede Möglichkeit abgeschnitten,
nach anderen Gründen zu forschen**); die unverbürgten Gerüchte der Presse und


D. Red.


*) Aber diesmal war die Entlassung gefordert worden.
**) Die Gründe des Entlassungsgesuchs waren aber durchaus andere als Gesund-
D. Red- heiM'ücksichten. Ihrer Diskussion hätte sich der Reichstag nicht entziehen sollen.
Hom Aeichstage.

Welch völlig veränderte Lage fand der Reichstag vor, als er nach zwei¬
wöchiger Osterpause am Dienstag zu seinen Geschäften zurückkehrte! Uner¬
warteter, als diese neueste „Kanzlerkrise", ist wohl selten etwas gekommen.
Alle Fragen, deren Berathung die Volksvertretung sich für die zweite Hälfte
der Session aufgespart hatte, waren gänzlich in den Hintergrund gedrängt;
so lauge die alles beherrschende Angelegenheit nicht definitiv entschieden war,
ermangelte die Situation durchaus des festen Bodens. Die verschiedensten
Gerüchte dnrchschwirrten die Luft. Wie immer, so fand auch diesmal der
einzige offiziell angegebene Grund des Bismarckschen Entlassungsgesuches, der
leidende Gesundheitszustand, am wenigsten Glauben. Fast allgemein vermuthete
man hinter dem Vorgange den Anfang eines Systemwechsels; schon gaben sich
die Einen den kühnsten Hoffnungen, die Anderen den schwärzesten Befürch¬
tungen hin. Zum mindesten wußte der Reichstag bei seinem Wiederzusammen¬
tritt schlechterdings nicht, wie er mit der Regierung eigentlich daran sei. Es
lag im allseitigen Interesse, daß dieser höchst unerquicklichen Lage schleunigst
ein Ende gemacht wurde.

Die Weise, wie dies am Mittwoch geschah, war günstiger, als man noch
einige Tage vorher erwarten konnte. Der Reichskanzler hatte auf seine Amts¬
enthebung verzichtet, und seine Beurlaubung vollzog sich in denselben Formen,
wie in früheren Fällen — mit einem Wort: es blieb alles beim Alten. An
sich lag also ebenso wenig, wie früher, ein Grund vor, die Urlanbscmzeige des
Fürsten Bismarck im Reichstage zur Sprache zu bringen.*) Dennoch muß man
zugeben, daß unter den obwaltenden konkreten Umständen das deutsche Volk
ein vollständiges Schweigen seiner Vertretung nicht verstanden haben würde.
Jeder empfand es als widernatürlich, wenn der Reichstag ein Ereigniß, das
Deutschland und Europa anderthalb Wochen hindurch in Athem gehalten, mit
affektirter Vornehmheit ignoriren wollte.

Freilich, dasjenige, worauf die allgemeine Wißbegierde am intensivsten
gerichtet war, die Untersuchung der eigentlichen Motive des Entlassungsgesuchs,
war nach der Mittwochsmittheilung von der parlamentarischen Debatte aus-
geschlossen. Der Reichskanzler zeigte seine Beurlaubung aus Gesundheitsrück¬
sichten an; damit war den Rednern des Reichstags jede Möglichkeit abgeschnitten,
nach anderen Gründen zu forschen**); die unverbürgten Gerüchte der Presse und


D. Red.


*) Aber diesmal war die Entlassung gefordert worden.
**) Die Gründe des Entlassungsgesuchs waren aber durchaus andere als Gesund-
D. Red- heiM'ücksichten. Ihrer Diskussion hätte sich der Reichstag nicht entziehen sollen.
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[0158] Hom Aeichstage. Welch völlig veränderte Lage fand der Reichstag vor, als er nach zwei¬ wöchiger Osterpause am Dienstag zu seinen Geschäften zurückkehrte! Uner¬ warteter, als diese neueste „Kanzlerkrise", ist wohl selten etwas gekommen. Alle Fragen, deren Berathung die Volksvertretung sich für die zweite Hälfte der Session aufgespart hatte, waren gänzlich in den Hintergrund gedrängt; so lauge die alles beherrschende Angelegenheit nicht definitiv entschieden war, ermangelte die Situation durchaus des festen Bodens. Die verschiedensten Gerüchte dnrchschwirrten die Luft. Wie immer, so fand auch diesmal der einzige offiziell angegebene Grund des Bismarckschen Entlassungsgesuches, der leidende Gesundheitszustand, am wenigsten Glauben. Fast allgemein vermuthete man hinter dem Vorgange den Anfang eines Systemwechsels; schon gaben sich die Einen den kühnsten Hoffnungen, die Anderen den schwärzesten Befürch¬ tungen hin. Zum mindesten wußte der Reichstag bei seinem Wiederzusammen¬ tritt schlechterdings nicht, wie er mit der Regierung eigentlich daran sei. Es lag im allseitigen Interesse, daß dieser höchst unerquicklichen Lage schleunigst ein Ende gemacht wurde. Die Weise, wie dies am Mittwoch geschah, war günstiger, als man noch einige Tage vorher erwarten konnte. Der Reichskanzler hatte auf seine Amts¬ enthebung verzichtet, und seine Beurlaubung vollzog sich in denselben Formen, wie in früheren Fällen — mit einem Wort: es blieb alles beim Alten. An sich lag also ebenso wenig, wie früher, ein Grund vor, die Urlanbscmzeige des Fürsten Bismarck im Reichstage zur Sprache zu bringen.*) Dennoch muß man zugeben, daß unter den obwaltenden konkreten Umständen das deutsche Volk ein vollständiges Schweigen seiner Vertretung nicht verstanden haben würde. Jeder empfand es als widernatürlich, wenn der Reichstag ein Ereigniß, das Deutschland und Europa anderthalb Wochen hindurch in Athem gehalten, mit affektirter Vornehmheit ignoriren wollte. Freilich, dasjenige, worauf die allgemeine Wißbegierde am intensivsten gerichtet war, die Untersuchung der eigentlichen Motive des Entlassungsgesuchs, war nach der Mittwochsmittheilung von der parlamentarischen Debatte aus- geschlossen. Der Reichskanzler zeigte seine Beurlaubung aus Gesundheitsrück¬ sichten an; damit war den Rednern des Reichstags jede Möglichkeit abgeschnitten, nach anderen Gründen zu forschen**); die unverbürgten Gerüchte der Presse und D. Red. *) Aber diesmal war die Entlassung gefordert worden. **) Die Gründe des Entlassungsgesuchs waren aber durchaus andere als Gesund- D. Red- heiM'ücksichten. Ihrer Diskussion hätte sich der Reichstag nicht entziehen sollen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/158>, abgerufen am 19.05.2024.