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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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der politischen Zirkel boten keine haltbare Unterlage für ein Raisonnement von
der Tribüne des Parlaments herab. Aber der Reichstag fühlte sich auf alle
Fälle gedrungen, Zeugniß abzulegen von dem Eindruck, den die Nachricht vom
Rücktritt des Kanzlers im Volke hervorgerufen, und außerdem war es unum¬
gängliche Pflicht der Volksvertretung, gewisse staatsrechtliche Forderungen aus-
zusprechen, deren Dringlichkeit sich gerade während der Kanzlerkrise mit
unwiderstehlicher Gewalt geltend gemacht hat.*)

Die Besprechung des kanzlerischen Schreibens, von der Fortschrittspartei
beantragt, gestaltete sich nach der einen Seite hin zu einer spontanen und
darum desto werthvolleren Vertrauenskundgebung für den Fürsten Bismarck. Brachte
der Redner der Fortschrittspartei, Hänel, dessen ungewöhnlich maßvolles Auftrete"
übrigens auf die große Mehrheit der Versammlung einen leidlichen Eindruck machte,
den Tribut der Anerkennung ein wenig zaghaft dar, so schilderte Bennigsen in
seiner staatsmännischen und dennoch herzenswarmen Weise die gewaltigen
Verdienste, welche Fürst Bismarck um die Errichtung eben so sehr wie um die
Befestigung und vor allem um die Weltstellung des neuen Deutschen Reiches
sich erworben hat. Nicht minder pries Graf Bethusy die Thaten des einzigen
Mannes, und auch der Heißsporn der äußersten Rechten, v. Kleist-Retzow, be¬
kundete einen Grad von Anerkennung, der uns fast glauben machen könnte,
der weiland so erbitterte Gegner der großen deutschen Reformpolitik habe wirk¬
lich seinen Tag von Damaskus gehabt. Alle diese Redner zeigten sich einig
in der Ueberzeugung, daß Fürst Bismarck dem Vaterlande niemals unent¬
behrlicher gewesen, als grade jetzt, und in dem aufrichtigen Wunsche, daß ihm
baldigst vergönnt sein möge, in voller Rüstigkeit zu seinem ruhmvollen Werke
Zurückzukehren. Nur Herr Windthorst hielt den Moment geeignet zu faden
Späßen; seine überaus lahmen Haarspaltereien fanden selbst bei seinen eigenen
Parteigenossen nicht einmal einen anständigen suoecis Z'estimö.

Der Schwerpunkt der Debatte aber lag in einer anderen Richtung; er
betraf die staatsrechtliche Seite der Frage. Aus der "Provinzialkorrespon-
denz" ist mit fast offizieller Sicherheit zu konstatiren, daß anfangs, nachdem
der Kanzler von der Forderung der Entlastung zurückgekommen war, ein Ur¬
laub geplant wurde, in welchem er außerhalb jedes Zusammenhanges mit den
Geschäften gewesen wäre. Dies hätte zur Voraussetzung gehabt, daß auch die
Verantwortlichkeit, welche nach der Reichsverfassung ausschließlich der Kanzler



*) Die Hauptforderung, welche sich dem Volke durch diese Krisis aufgedrängt hat, ist
°le, daß die Ursachen für die Wiederkehr solcher Krisen gründlich beseitigt werden, insbe¬
sondere dadurch, daß nicht unverantwortliche Personen die Amtsgeschäfte des verantwort¬
lichen Reichskanzlers hemmen. Alle übrigen staatsrechtlichen Forderungen waren dem Volke
b D. Red. edeutend gleichgültiger, als leider in parlamentarischen Kreisen erkannt wird.

der politischen Zirkel boten keine haltbare Unterlage für ein Raisonnement von
der Tribüne des Parlaments herab. Aber der Reichstag fühlte sich auf alle
Fälle gedrungen, Zeugniß abzulegen von dem Eindruck, den die Nachricht vom
Rücktritt des Kanzlers im Volke hervorgerufen, und außerdem war es unum¬
gängliche Pflicht der Volksvertretung, gewisse staatsrechtliche Forderungen aus-
zusprechen, deren Dringlichkeit sich gerade während der Kanzlerkrise mit
unwiderstehlicher Gewalt geltend gemacht hat.*)

Die Besprechung des kanzlerischen Schreibens, von der Fortschrittspartei
beantragt, gestaltete sich nach der einen Seite hin zu einer spontanen und
darum desto werthvolleren Vertrauenskundgebung für den Fürsten Bismarck. Brachte
der Redner der Fortschrittspartei, Hänel, dessen ungewöhnlich maßvolles Auftrete«
übrigens auf die große Mehrheit der Versammlung einen leidlichen Eindruck machte,
den Tribut der Anerkennung ein wenig zaghaft dar, so schilderte Bennigsen in
seiner staatsmännischen und dennoch herzenswarmen Weise die gewaltigen
Verdienste, welche Fürst Bismarck um die Errichtung eben so sehr wie um die
Befestigung und vor allem um die Weltstellung des neuen Deutschen Reiches
sich erworben hat. Nicht minder pries Graf Bethusy die Thaten des einzigen
Mannes, und auch der Heißsporn der äußersten Rechten, v. Kleist-Retzow, be¬
kundete einen Grad von Anerkennung, der uns fast glauben machen könnte,
der weiland so erbitterte Gegner der großen deutschen Reformpolitik habe wirk¬
lich seinen Tag von Damaskus gehabt. Alle diese Redner zeigten sich einig
in der Ueberzeugung, daß Fürst Bismarck dem Vaterlande niemals unent¬
behrlicher gewesen, als grade jetzt, und in dem aufrichtigen Wunsche, daß ihm
baldigst vergönnt sein möge, in voller Rüstigkeit zu seinem ruhmvollen Werke
Zurückzukehren. Nur Herr Windthorst hielt den Moment geeignet zu faden
Späßen; seine überaus lahmen Haarspaltereien fanden selbst bei seinen eigenen
Parteigenossen nicht einmal einen anständigen suoecis Z'estimö.

Der Schwerpunkt der Debatte aber lag in einer anderen Richtung; er
betraf die staatsrechtliche Seite der Frage. Aus der „Provinzialkorrespon-
denz" ist mit fast offizieller Sicherheit zu konstatiren, daß anfangs, nachdem
der Kanzler von der Forderung der Entlastung zurückgekommen war, ein Ur¬
laub geplant wurde, in welchem er außerhalb jedes Zusammenhanges mit den
Geschäften gewesen wäre. Dies hätte zur Voraussetzung gehabt, daß auch die
Verantwortlichkeit, welche nach der Reichsverfassung ausschließlich der Kanzler



*) Die Hauptforderung, welche sich dem Volke durch diese Krisis aufgedrängt hat, ist
°le, daß die Ursachen für die Wiederkehr solcher Krisen gründlich beseitigt werden, insbe¬
sondere dadurch, daß nicht unverantwortliche Personen die Amtsgeschäfte des verantwort¬
lichen Reichskanzlers hemmen. Alle übrigen staatsrechtlichen Forderungen waren dem Volke
b D. Red. edeutend gleichgültiger, als leider in parlamentarischen Kreisen erkannt wird.
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[0159] der politischen Zirkel boten keine haltbare Unterlage für ein Raisonnement von der Tribüne des Parlaments herab. Aber der Reichstag fühlte sich auf alle Fälle gedrungen, Zeugniß abzulegen von dem Eindruck, den die Nachricht vom Rücktritt des Kanzlers im Volke hervorgerufen, und außerdem war es unum¬ gängliche Pflicht der Volksvertretung, gewisse staatsrechtliche Forderungen aus- zusprechen, deren Dringlichkeit sich gerade während der Kanzlerkrise mit unwiderstehlicher Gewalt geltend gemacht hat.*) Die Besprechung des kanzlerischen Schreibens, von der Fortschrittspartei beantragt, gestaltete sich nach der einen Seite hin zu einer spontanen und darum desto werthvolleren Vertrauenskundgebung für den Fürsten Bismarck. Brachte der Redner der Fortschrittspartei, Hänel, dessen ungewöhnlich maßvolles Auftrete« übrigens auf die große Mehrheit der Versammlung einen leidlichen Eindruck machte, den Tribut der Anerkennung ein wenig zaghaft dar, so schilderte Bennigsen in seiner staatsmännischen und dennoch herzenswarmen Weise die gewaltigen Verdienste, welche Fürst Bismarck um die Errichtung eben so sehr wie um die Befestigung und vor allem um die Weltstellung des neuen Deutschen Reiches sich erworben hat. Nicht minder pries Graf Bethusy die Thaten des einzigen Mannes, und auch der Heißsporn der äußersten Rechten, v. Kleist-Retzow, be¬ kundete einen Grad von Anerkennung, der uns fast glauben machen könnte, der weiland so erbitterte Gegner der großen deutschen Reformpolitik habe wirk¬ lich seinen Tag von Damaskus gehabt. Alle diese Redner zeigten sich einig in der Ueberzeugung, daß Fürst Bismarck dem Vaterlande niemals unent¬ behrlicher gewesen, als grade jetzt, und in dem aufrichtigen Wunsche, daß ihm baldigst vergönnt sein möge, in voller Rüstigkeit zu seinem ruhmvollen Werke Zurückzukehren. Nur Herr Windthorst hielt den Moment geeignet zu faden Späßen; seine überaus lahmen Haarspaltereien fanden selbst bei seinen eigenen Parteigenossen nicht einmal einen anständigen suoecis Z'estimö. Der Schwerpunkt der Debatte aber lag in einer anderen Richtung; er betraf die staatsrechtliche Seite der Frage. Aus der „Provinzialkorrespon- denz" ist mit fast offizieller Sicherheit zu konstatiren, daß anfangs, nachdem der Kanzler von der Forderung der Entlastung zurückgekommen war, ein Ur¬ laub geplant wurde, in welchem er außerhalb jedes Zusammenhanges mit den Geschäften gewesen wäre. Dies hätte zur Voraussetzung gehabt, daß auch die Verantwortlichkeit, welche nach der Reichsverfassung ausschließlich der Kanzler *) Die Hauptforderung, welche sich dem Volke durch diese Krisis aufgedrängt hat, ist °le, daß die Ursachen für die Wiederkehr solcher Krisen gründlich beseitigt werden, insbe¬ sondere dadurch, daß nicht unverantwortliche Personen die Amtsgeschäfte des verantwort¬ lichen Reichskanzlers hemmen. Alle übrigen staatsrechtlichen Forderungen waren dem Volke b D. Red. edeutend gleichgültiger, als leider in parlamentarischen Kreisen erkannt wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/159>, abgerufen am 09.06.2024.