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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Lin Kapitel aus der /AolKsastronomie.

Wie das Volk, wo die Schule und die populäre Literatur ihm nicht
andere Wege gewiesen haben als die gewöhnlichen, seine eigne Zoologie mit
Drachen, Basilisken und Einhörnern, seine Botanik mit Alräunchen, Springwurzeln
und Farusainen, seiue Medicin und in gewissem Sinne selbst seine besondere
Theologie hat, so hat es auch seine eigne Wissenschaft von den Himmels-
erscheinungen und der Welt der Gestirne.

Wenn es donnert, so sagt man auf der Insel Sylt: "Der liebe Gott
fährt seine Kiesen" (Feuerung aus getrocknetem Mist), die Ditmarscher aber
meinen dann, die Engel kegeln mit großen Steinen, und ist es ein starkes Ge¬
witter, so heißt es: "Nun fährt der Alte wider die Bäume im Himmel und
haut mit der Axt ein Rad;" denn aus den dabei herumfliegenden Funken ent¬
stehen die Blitze. Der Regenbogen stellt sich, wie man in Schwaben meint,
immer mit den beiden Endpunkten, welche die Erde berühren, über zwei Ge¬
wässer und schöpft daraus mit zwei goldnen Schüsseln. Wer zu rechter Zeit
an die Stelle kommt, wo der Regenbogen "trinkt", kann ihm die eine dieser
Schüsseln abnehmen. Manche behaupten auch, er lasse da, wo er am Längsten
auf dem Boden stehen bleibe, eine solche Schüssel zurück, weßhalb die Land¬
leute sich nach einem Regenbogen darnach umzusehen pflegen. Wer ein
"Regenbogenschüssele" findet, darf es nicht verkaufen, sondern muß es als
Erbstück in der Familie lassen; denn es bringt Glück ins Haus. Ein Schäfer
aus Undingen auf der Alb hat einmal eins gefunden, und seitdem ist ihm kein
Schaf mehr krank geworden. In Heubach verkaufte einer das seinige, und
sofort wurde er zur Strafe dafür stumm. Die Serben schreiben dem Regen¬
bogen, den sie die "Geisterbrücke" nennen, die Macht zu, das Geschlecht der
unter ihm Durchgehenden zu ändern, vielleicht weil die Bibel die Geister sich
geschlechtslos vorstellt.

Allenthalben ist der Ausdruck verbreitet, daß die Sterne "sich schnäuzen".
Die Littauer glauben, daß die Sterne die Enden der Lebensfaden der Menschen


Grenzboten II. 1877. 46
Lin Kapitel aus der /AolKsastronomie.

Wie das Volk, wo die Schule und die populäre Literatur ihm nicht
andere Wege gewiesen haben als die gewöhnlichen, seine eigne Zoologie mit
Drachen, Basilisken und Einhörnern, seine Botanik mit Alräunchen, Springwurzeln
und Farusainen, seiue Medicin und in gewissem Sinne selbst seine besondere
Theologie hat, so hat es auch seine eigne Wissenschaft von den Himmels-
erscheinungen und der Welt der Gestirne.

Wenn es donnert, so sagt man auf der Insel Sylt: „Der liebe Gott
fährt seine Kiesen" (Feuerung aus getrocknetem Mist), die Ditmarscher aber
meinen dann, die Engel kegeln mit großen Steinen, und ist es ein starkes Ge¬
witter, so heißt es: „Nun fährt der Alte wider die Bäume im Himmel und
haut mit der Axt ein Rad;" denn aus den dabei herumfliegenden Funken ent¬
stehen die Blitze. Der Regenbogen stellt sich, wie man in Schwaben meint,
immer mit den beiden Endpunkten, welche die Erde berühren, über zwei Ge¬
wässer und schöpft daraus mit zwei goldnen Schüsseln. Wer zu rechter Zeit
an die Stelle kommt, wo der Regenbogen „trinkt", kann ihm die eine dieser
Schüsseln abnehmen. Manche behaupten auch, er lasse da, wo er am Längsten
auf dem Boden stehen bleibe, eine solche Schüssel zurück, weßhalb die Land¬
leute sich nach einem Regenbogen darnach umzusehen pflegen. Wer ein
„Regenbogenschüssele" findet, darf es nicht verkaufen, sondern muß es als
Erbstück in der Familie lassen; denn es bringt Glück ins Haus. Ein Schäfer
aus Undingen auf der Alb hat einmal eins gefunden, und seitdem ist ihm kein
Schaf mehr krank geworden. In Heubach verkaufte einer das seinige, und
sofort wurde er zur Strafe dafür stumm. Die Serben schreiben dem Regen¬
bogen, den sie die „Geisterbrücke" nennen, die Macht zu, das Geschlecht der
unter ihm Durchgehenden zu ändern, vielleicht weil die Bibel die Geister sich
geschlechtslos vorstellt.

Allenthalben ist der Ausdruck verbreitet, daß die Sterne „sich schnäuzen".
Die Littauer glauben, daß die Sterne die Enden der Lebensfaden der Menschen


Grenzboten II. 1877. 46
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[0365] Lin Kapitel aus der /AolKsastronomie. Wie das Volk, wo die Schule und die populäre Literatur ihm nicht andere Wege gewiesen haben als die gewöhnlichen, seine eigne Zoologie mit Drachen, Basilisken und Einhörnern, seine Botanik mit Alräunchen, Springwurzeln und Farusainen, seiue Medicin und in gewissem Sinne selbst seine besondere Theologie hat, so hat es auch seine eigne Wissenschaft von den Himmels- erscheinungen und der Welt der Gestirne. Wenn es donnert, so sagt man auf der Insel Sylt: „Der liebe Gott fährt seine Kiesen" (Feuerung aus getrocknetem Mist), die Ditmarscher aber meinen dann, die Engel kegeln mit großen Steinen, und ist es ein starkes Ge¬ witter, so heißt es: „Nun fährt der Alte wider die Bäume im Himmel und haut mit der Axt ein Rad;" denn aus den dabei herumfliegenden Funken ent¬ stehen die Blitze. Der Regenbogen stellt sich, wie man in Schwaben meint, immer mit den beiden Endpunkten, welche die Erde berühren, über zwei Ge¬ wässer und schöpft daraus mit zwei goldnen Schüsseln. Wer zu rechter Zeit an die Stelle kommt, wo der Regenbogen „trinkt", kann ihm die eine dieser Schüsseln abnehmen. Manche behaupten auch, er lasse da, wo er am Längsten auf dem Boden stehen bleibe, eine solche Schüssel zurück, weßhalb die Land¬ leute sich nach einem Regenbogen darnach umzusehen pflegen. Wer ein „Regenbogenschüssele" findet, darf es nicht verkaufen, sondern muß es als Erbstück in der Familie lassen; denn es bringt Glück ins Haus. Ein Schäfer aus Undingen auf der Alb hat einmal eins gefunden, und seitdem ist ihm kein Schaf mehr krank geworden. In Heubach verkaufte einer das seinige, und sofort wurde er zur Strafe dafür stumm. Die Serben schreiben dem Regen¬ bogen, den sie die „Geisterbrücke" nennen, die Macht zu, das Geschlecht der unter ihm Durchgehenden zu ändern, vielleicht weil die Bibel die Geister sich geschlechtslos vorstellt. Allenthalben ist der Ausdruck verbreitet, daß die Sterne „sich schnäuzen". Die Littauer glauben, daß die Sterne die Enden der Lebensfaden der Menschen Grenzboten II. 1877. 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/365>, abgerufen am 26.05.2024.