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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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seien, und daß ein sogenannter Sternfall den Tod von Jemand bedeute. In
Holstein müssen die alten Jungfern, nachdem sie gestorben, dem lieben Gotte
die Sterne -machen. Sobald eine Sonne des Abends im Westen untergegangen
ist, kommen sie, um sie zu Sternen zu zerschneiden, die dann von den ver¬
storbenen alten Junggesellen im Osten an den Himmel hinaufgeblasen werden.
Die Milchstraße heißt bei den Littauern der "Weg der Vögel", indem dort die
Seelen der Todten als weiße Vögel hin- und herflatteru. In Schwaben aber
wird sie die "Jakobsleiter" genannt, und manche Leute sehen dort auf ihr
noch heilte wie einst der Erzvater Jakob die Engel auf- und absteigen. Vom
Siebengestirn erzählt eine Volkslegende: "Christus ging einmal an einem
Bäckerladen vorbei, wo frisches Brod duftete. Da ließ er die Jünger den
Bäcker um ein Brod bitten. Der schlug es ihnen ab, seine Frau aber, die
mit ihren sechs Töchtern dabei stand, gab ihnen heimlich ein Brod. Sie wurde
dafür sammt ihren Mädchen uuter die Sterne versetzt. Der Mann aber wurde
in einen Kukuk verwandelt. Dieser Vogel heißt deßhalb der ,Beckenknecht/,
und so lange er im Frühling ruft -- von Tiburtii bis Johannis -- ist das
Siebengestirn am Himmel sichtbar." In Schwaben aber nennt man letzteres
die "Gluckhenne", weil unter den Sternen dieser Gruppe einer ist, welcher die
übrigen sechs als Küchlein anführt und zugleich alle übrigen Sterne des
Himmels "zusammenlocken" kann. Die drei Sterne, welche den Gürtel des
Orion bilden, nennt das schwäbische Volk den "Mosesstab", und zwar soll es
derjenige sein, mit welchem der Prophet das Rothe Meer schlug, daß es sich
theilte und die Kinder Israel hindurchgehen ließ. Das Sternbild des Großen
Bären führt in Schwaben den Namen des "Himmelswagens", in Schleswig-
Holstein den des "Karlswagens". Dort, wo man an ihm ganz deutlich vier
Räder, zwei Pferde und den Fuhrmann erkennt, fährt er jede Nacht nach
Jerusalem. Hier dagegen ist er der Wagen, auf dem Elias und unser Herr
Christus gen Himmel gefahren sind. Der ganz kleine Stern über dem
mittelsten in der Deichsel ist der Fuhrmann, Hans Dünkt. Der war Knecht
bei dem lieben Gott und that, obwohl er's da gut hatte, seine Arbeit nicht,
wie sich's gehört; namentlich schnitt er den Häckerling immer zu lang. Mehr¬
mals verwies ihm das sein Herr, er aber kehrte sich nicht daran. Darüber
wurde der liebe Gott endlich so verdrießlich, daß er ihn eines Tages beim
Kragen nahm und auf die Deichsel des Himmelswagens setzte, wo er jeden
Abend zu sehen ist, -- eine Warnung für alle Knechte, die den Häckerling zu
lang schneiden.

Fast überall in Deutschland ist die Meinung verbreitet, daß die Sonne
am Ostermorgen drei Freudensprünge thue, in Rottenburg am Neckar thut sie
deren in der Christnacht, wo sie ihren Lauf verändert, zwei. Am Karfreitag


seien, und daß ein sogenannter Sternfall den Tod von Jemand bedeute. In
Holstein müssen die alten Jungfern, nachdem sie gestorben, dem lieben Gotte
die Sterne -machen. Sobald eine Sonne des Abends im Westen untergegangen
ist, kommen sie, um sie zu Sternen zu zerschneiden, die dann von den ver¬
storbenen alten Junggesellen im Osten an den Himmel hinaufgeblasen werden.
Die Milchstraße heißt bei den Littauern der „Weg der Vögel", indem dort die
Seelen der Todten als weiße Vögel hin- und herflatteru. In Schwaben aber
wird sie die „Jakobsleiter" genannt, und manche Leute sehen dort auf ihr
noch heilte wie einst der Erzvater Jakob die Engel auf- und absteigen. Vom
Siebengestirn erzählt eine Volkslegende: „Christus ging einmal an einem
Bäckerladen vorbei, wo frisches Brod duftete. Da ließ er die Jünger den
Bäcker um ein Brod bitten. Der schlug es ihnen ab, seine Frau aber, die
mit ihren sechs Töchtern dabei stand, gab ihnen heimlich ein Brod. Sie wurde
dafür sammt ihren Mädchen uuter die Sterne versetzt. Der Mann aber wurde
in einen Kukuk verwandelt. Dieser Vogel heißt deßhalb der ,Beckenknecht/,
und so lange er im Frühling ruft — von Tiburtii bis Johannis — ist das
Siebengestirn am Himmel sichtbar." In Schwaben aber nennt man letzteres
die „Gluckhenne", weil unter den Sternen dieser Gruppe einer ist, welcher die
übrigen sechs als Küchlein anführt und zugleich alle übrigen Sterne des
Himmels „zusammenlocken" kann. Die drei Sterne, welche den Gürtel des
Orion bilden, nennt das schwäbische Volk den „Mosesstab", und zwar soll es
derjenige sein, mit welchem der Prophet das Rothe Meer schlug, daß es sich
theilte und die Kinder Israel hindurchgehen ließ. Das Sternbild des Großen
Bären führt in Schwaben den Namen des „Himmelswagens", in Schleswig-
Holstein den des „Karlswagens". Dort, wo man an ihm ganz deutlich vier
Räder, zwei Pferde und den Fuhrmann erkennt, fährt er jede Nacht nach
Jerusalem. Hier dagegen ist er der Wagen, auf dem Elias und unser Herr
Christus gen Himmel gefahren sind. Der ganz kleine Stern über dem
mittelsten in der Deichsel ist der Fuhrmann, Hans Dünkt. Der war Knecht
bei dem lieben Gott und that, obwohl er's da gut hatte, seine Arbeit nicht,
wie sich's gehört; namentlich schnitt er den Häckerling immer zu lang. Mehr¬
mals verwies ihm das sein Herr, er aber kehrte sich nicht daran. Darüber
wurde der liebe Gott endlich so verdrießlich, daß er ihn eines Tages beim
Kragen nahm und auf die Deichsel des Himmelswagens setzte, wo er jeden
Abend zu sehen ist, — eine Warnung für alle Knechte, die den Häckerling zu
lang schneiden.

Fast überall in Deutschland ist die Meinung verbreitet, daß die Sonne
am Ostermorgen drei Freudensprünge thue, in Rottenburg am Neckar thut sie
deren in der Christnacht, wo sie ihren Lauf verändert, zwei. Am Karfreitag


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/366>, abgerufen am 17.06.2024.