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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Literaten.
Geschichte der französischen Literatur im siebzehnten Jahrhundert
von Ferdinand Lotheißen. Erster Band (Erste Hälfte). Wien, Druck und
Verlag von C. Gerold's Sohn. 1877.

Das siebzehnte Jahrhundert war für Frankreich eine in jeder Beziehung
ruhmreiche Zeit. Von Heinrich dem Vierten und nach diesem von Richelieu
in seiner Einheit befestigt, nahm es unter Ludwig dem Vierzehnten einen Auf¬
schwung, der es an der Stelle Spaniens zur Vormacht Europa's machte. Es
erlebte große kriegerische Erfolge, es bildete einen glanzvollen Hof aus, und
zu gleicher Zeit trieb der Volksgeist eine Fülle der schönsten Blüthen, die
französische Literatur stieg zu klassischer Höhe empor und erhob die französische
Sprache zur herrschenden unter den Gebildeten Europa's. Aber es war doch
kein recht natürlicher Zustand, in dem sich Land und Volk befand. Das ab¬
solute Königthum absorbirte Alles, auch die Literatur diente ihm, die großen
Dichter der Zeit arbeiteten nur für die Hofkreise, für die Welt des Adels und der
vornehmen Gesellschaft. Der König vereinigte nicht bloß alle politische Macht
in seiner Hand, er strebte anch die Geister zu beherrschen, und dazu mußte
ihm die Literatur helfen. Das Leben der höheren französischen Gesellschaft er¬
scheint infolge dessen von der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts an einseitig,
aber es ist in sich harmonisch; vornehm, fein, in seiner Art geschmackvoll, ist
es nicht ohne Größe. Man schuf sich eine Wahrheit, eine zweite Natur, da
man die echte Wahrheit und Natur nicht kultiviren konnte. Man glaubte zu
antiker Einfachheit und Würde zurückzukehren, während man doch ganz und
gar modern blieb. Selbst die Sprache folgte dem Zuge der Zeit, dem centra-
lisirenden, nivellirenden Antriebe. Unter der feilenden, abschleifenden, stets sich
selbst mäßigenden und dampfenden Arbeit der um die Sonne königlicher Gunst
kreisenden Dichter und Schriftsteller wurde sie glatt, gemessen, vornehm und
etikettemäßig, aber ärmer als ehedem. Im Ganzen war die Bildung des
Jahrhunderts mehr eine formale, mehr äußerlich, eine prächtige Blüthe, in der
kein rechter Kern reifte. Die Form war schön, klar und sicher, aber häufig
mangelte es an lebensvollen fruchtbaren Ideen. Das wird sofort deutlich,
wenn wir die Ideale dieser Generationen mit denen des folgenden Jahrhun¬
derts vergleichen. Diderot spricht einmal von den kleinmüthigen Jahrhunderten
des Geschmacks, die nur auf Schönheit sehen, und denen die Kühnheit des
Geistes fehlt. Diese Kühnheit fand sich erst später, als der stolze Bau der
unumschränkten Monarchie zerbröckelte und die Arbeit der Reformationszeit
von der Philosophie der Aufklärung wieder aufgenommen wurde. Nur zeigte


Literaten.
Geschichte der französischen Literatur im siebzehnten Jahrhundert
von Ferdinand Lotheißen. Erster Band (Erste Hälfte). Wien, Druck und
Verlag von C. Gerold's Sohn. 1877.

Das siebzehnte Jahrhundert war für Frankreich eine in jeder Beziehung
ruhmreiche Zeit. Von Heinrich dem Vierten und nach diesem von Richelieu
in seiner Einheit befestigt, nahm es unter Ludwig dem Vierzehnten einen Auf¬
schwung, der es an der Stelle Spaniens zur Vormacht Europa's machte. Es
erlebte große kriegerische Erfolge, es bildete einen glanzvollen Hof aus, und
zu gleicher Zeit trieb der Volksgeist eine Fülle der schönsten Blüthen, die
französische Literatur stieg zu klassischer Höhe empor und erhob die französische
Sprache zur herrschenden unter den Gebildeten Europa's. Aber es war doch
kein recht natürlicher Zustand, in dem sich Land und Volk befand. Das ab¬
solute Königthum absorbirte Alles, auch die Literatur diente ihm, die großen
Dichter der Zeit arbeiteten nur für die Hofkreise, für die Welt des Adels und der
vornehmen Gesellschaft. Der König vereinigte nicht bloß alle politische Macht
in seiner Hand, er strebte anch die Geister zu beherrschen, und dazu mußte
ihm die Literatur helfen. Das Leben der höheren französischen Gesellschaft er¬
scheint infolge dessen von der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts an einseitig,
aber es ist in sich harmonisch; vornehm, fein, in seiner Art geschmackvoll, ist
es nicht ohne Größe. Man schuf sich eine Wahrheit, eine zweite Natur, da
man die echte Wahrheit und Natur nicht kultiviren konnte. Man glaubte zu
antiker Einfachheit und Würde zurückzukehren, während man doch ganz und
gar modern blieb. Selbst die Sprache folgte dem Zuge der Zeit, dem centra-
lisirenden, nivellirenden Antriebe. Unter der feilenden, abschleifenden, stets sich
selbst mäßigenden und dampfenden Arbeit der um die Sonne königlicher Gunst
kreisenden Dichter und Schriftsteller wurde sie glatt, gemessen, vornehm und
etikettemäßig, aber ärmer als ehedem. Im Ganzen war die Bildung des
Jahrhunderts mehr eine formale, mehr äußerlich, eine prächtige Blüthe, in der
kein rechter Kern reifte. Die Form war schön, klar und sicher, aber häufig
mangelte es an lebensvollen fruchtbaren Ideen. Das wird sofort deutlich,
wenn wir die Ideale dieser Generationen mit denen des folgenden Jahrhun¬
derts vergleichen. Diderot spricht einmal von den kleinmüthigen Jahrhunderten
des Geschmacks, die nur auf Schönheit sehen, und denen die Kühnheit des
Geistes fehlt. Diese Kühnheit fand sich erst später, als der stolze Bau der
unumschränkten Monarchie zerbröckelte und die Arbeit der Reformationszeit
von der Philosophie der Aufklärung wieder aufgenommen wurde. Nur zeigte


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[0439] Literaten. Geschichte der französischen Literatur im siebzehnten Jahrhundert von Ferdinand Lotheißen. Erster Band (Erste Hälfte). Wien, Druck und Verlag von C. Gerold's Sohn. 1877. Das siebzehnte Jahrhundert war für Frankreich eine in jeder Beziehung ruhmreiche Zeit. Von Heinrich dem Vierten und nach diesem von Richelieu in seiner Einheit befestigt, nahm es unter Ludwig dem Vierzehnten einen Auf¬ schwung, der es an der Stelle Spaniens zur Vormacht Europa's machte. Es erlebte große kriegerische Erfolge, es bildete einen glanzvollen Hof aus, und zu gleicher Zeit trieb der Volksgeist eine Fülle der schönsten Blüthen, die französische Literatur stieg zu klassischer Höhe empor und erhob die französische Sprache zur herrschenden unter den Gebildeten Europa's. Aber es war doch kein recht natürlicher Zustand, in dem sich Land und Volk befand. Das ab¬ solute Königthum absorbirte Alles, auch die Literatur diente ihm, die großen Dichter der Zeit arbeiteten nur für die Hofkreise, für die Welt des Adels und der vornehmen Gesellschaft. Der König vereinigte nicht bloß alle politische Macht in seiner Hand, er strebte anch die Geister zu beherrschen, und dazu mußte ihm die Literatur helfen. Das Leben der höheren französischen Gesellschaft er¬ scheint infolge dessen von der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts an einseitig, aber es ist in sich harmonisch; vornehm, fein, in seiner Art geschmackvoll, ist es nicht ohne Größe. Man schuf sich eine Wahrheit, eine zweite Natur, da man die echte Wahrheit und Natur nicht kultiviren konnte. Man glaubte zu antiker Einfachheit und Würde zurückzukehren, während man doch ganz und gar modern blieb. Selbst die Sprache folgte dem Zuge der Zeit, dem centra- lisirenden, nivellirenden Antriebe. Unter der feilenden, abschleifenden, stets sich selbst mäßigenden und dampfenden Arbeit der um die Sonne königlicher Gunst kreisenden Dichter und Schriftsteller wurde sie glatt, gemessen, vornehm und etikettemäßig, aber ärmer als ehedem. Im Ganzen war die Bildung des Jahrhunderts mehr eine formale, mehr äußerlich, eine prächtige Blüthe, in der kein rechter Kern reifte. Die Form war schön, klar und sicher, aber häufig mangelte es an lebensvollen fruchtbaren Ideen. Das wird sofort deutlich, wenn wir die Ideale dieser Generationen mit denen des folgenden Jahrhun¬ derts vergleichen. Diderot spricht einmal von den kleinmüthigen Jahrhunderten des Geschmacks, die nur auf Schönheit sehen, und denen die Kühnheit des Geistes fehlt. Diese Kühnheit fand sich erst später, als der stolze Bau der unumschränkten Monarchie zerbröckelte und die Arbeit der Reformationszeit von der Philosophie der Aufklärung wieder aufgenommen wurde. Nur zeigte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/439>, abgerufen am 26.05.2024.