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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Zur französischen Literaturgeschichte. Studien und Skizzen von Wilhelm
König. Halle, Lippert'sche Buchhandlung. 1877.

Vier Essais und eine Rede zur Sedcmfeier. Jene geben eine Charakteristik
des Herzogs Karl von Orleans, der als Führer in einem der erbitterten Partei¬
kämpfe, die im fünfzehnten Jahrhundert Frankreich zerfleischten, und zugleich
als Dichter eine Rolle spielte, dann eine sehr lesenswerthe, mit Geist und
Kenntniß geschrieben Betrachtung des Verhaltens Voltaire's zu Shakespeare,
ferner eine Geschichte und Schilderung der französischen Akademie, welche all¬
gemeines Interesse beansprucht, endlich ein Lebensbild des 1780 jung verstor¬
benen Dichters Gilbert. In Betreff der Stellung Voltaire's zu Shakespeare
kommt der Verfasser zu folgendem Ergebniß. Voltaire's Grundanschauungen
über die Tragödie sind nie ernstlich von Shakespeare'scher Freiheit affizirt
worden. Er hat nur die allerunwesentlichste der Einheiten, die des Ortes,
durchbrochen, Er hat allerdings Wünsche gehegt in Bezug auf Belebung der
Handlung, er hat mit Glück den Versuch gemacht, gegen die öde Langweilig¬
keit des klassischen Drama's anzukämpfen, aber die ernsthaften Konsequenzen
hat er nie gezogen. Die Vorzüge des englischen Theaters hat er nie ver¬
kannt, aber er meinte in der reinen Formvollendung des klassischen Drama's
diesen Vorzügen gleichwerthige entgegensetzen zu können. Er glaubte ferner,
daß die Entdeckung und Verbreitung Shakespeare's ihm Ansprüche auf Dank¬
barkeit sichere; nur sah er leider Shakespeare als sein Monopol an, welches
ihn zugleich in den Stand setzen sollte, die hervorgerufene Bewegung nach
seinem Willen zu hemmen oder zu fördern. Erst, als er fühlt, daß ihm die
Zügel ans den Händen genommen werden, verfällt er in jenen gereizten Ton
seiner letzten Jahre, zeigt bösen Willen, entstellt und verfälscht absichtlich, wäh¬
rend dies bisher nur aus mangelndem Verständniß geschehen war. Mit der
Ueberjetzung Shakespeare's durch Letourneur glaubt er das klassische Drama
ernstlich bedroht; das fühlt man selbst aus den im Ganzen albernen Briefen
heraus, die er an die Akademie richtete. Dazu kommt das Bewußtsein per¬
sönlicher Schwäche, der Druck des Greisenalters. Er empfindet bitter, daß
man den alten Kranken von Ferney zu den Akten gelegt hat. Das alles er¬
klärt die maßlose Heftigkeit seiner letzten Augriffe. "Voltaire hat Shakespeare
nicht verstanden, wenn er gleich seine Größe instinktiv fühlte, das ist das ganze
Geheimniß. Hier ist der Schlüssel zu den anscheinend so widersprechenden Er¬
scheinungen in seinem Verhältniß zu ihm."




Verantwortlicher Redakteur: Dr. Haus Blum in Leipzig.
Verlag von F. L. Hevtig in Leipzig. -- Druck von Hiithcl Herrmann in Leipzig.
Zur französischen Literaturgeschichte. Studien und Skizzen von Wilhelm
König. Halle, Lippert'sche Buchhandlung. 1877.

Vier Essais und eine Rede zur Sedcmfeier. Jene geben eine Charakteristik
des Herzogs Karl von Orleans, der als Führer in einem der erbitterten Partei¬
kämpfe, die im fünfzehnten Jahrhundert Frankreich zerfleischten, und zugleich
als Dichter eine Rolle spielte, dann eine sehr lesenswerthe, mit Geist und
Kenntniß geschrieben Betrachtung des Verhaltens Voltaire's zu Shakespeare,
ferner eine Geschichte und Schilderung der französischen Akademie, welche all¬
gemeines Interesse beansprucht, endlich ein Lebensbild des 1780 jung verstor¬
benen Dichters Gilbert. In Betreff der Stellung Voltaire's zu Shakespeare
kommt der Verfasser zu folgendem Ergebniß. Voltaire's Grundanschauungen
über die Tragödie sind nie ernstlich von Shakespeare'scher Freiheit affizirt
worden. Er hat nur die allerunwesentlichste der Einheiten, die des Ortes,
durchbrochen, Er hat allerdings Wünsche gehegt in Bezug auf Belebung der
Handlung, er hat mit Glück den Versuch gemacht, gegen die öde Langweilig¬
keit des klassischen Drama's anzukämpfen, aber die ernsthaften Konsequenzen
hat er nie gezogen. Die Vorzüge des englischen Theaters hat er nie ver¬
kannt, aber er meinte in der reinen Formvollendung des klassischen Drama's
diesen Vorzügen gleichwerthige entgegensetzen zu können. Er glaubte ferner,
daß die Entdeckung und Verbreitung Shakespeare's ihm Ansprüche auf Dank¬
barkeit sichere; nur sah er leider Shakespeare als sein Monopol an, welches
ihn zugleich in den Stand setzen sollte, die hervorgerufene Bewegung nach
seinem Willen zu hemmen oder zu fördern. Erst, als er fühlt, daß ihm die
Zügel ans den Händen genommen werden, verfällt er in jenen gereizten Ton
seiner letzten Jahre, zeigt bösen Willen, entstellt und verfälscht absichtlich, wäh¬
rend dies bisher nur aus mangelndem Verständniß geschehen war. Mit der
Ueberjetzung Shakespeare's durch Letourneur glaubt er das klassische Drama
ernstlich bedroht; das fühlt man selbst aus den im Ganzen albernen Briefen
heraus, die er an die Akademie richtete. Dazu kommt das Bewußtsein per¬
sönlicher Schwäche, der Druck des Greisenalters. Er empfindet bitter, daß
man den alten Kranken von Ferney zu den Akten gelegt hat. Das alles er¬
klärt die maßlose Heftigkeit seiner letzten Augriffe. „Voltaire hat Shakespeare
nicht verstanden, wenn er gleich seine Größe instinktiv fühlte, das ist das ganze
Geheimniß. Hier ist der Schlüssel zu den anscheinend so widersprechenden Er¬
scheinungen in seinem Verhältniß zu ihm."




Verantwortlicher Redakteur: Dr. Haus Blum in Leipzig.
Verlag von F. L. Hevtig in Leipzig. — Druck von Hiithcl Herrmann in Leipzig.
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[0444] Zur französischen Literaturgeschichte. Studien und Skizzen von Wilhelm König. Halle, Lippert'sche Buchhandlung. 1877. Vier Essais und eine Rede zur Sedcmfeier. Jene geben eine Charakteristik des Herzogs Karl von Orleans, der als Führer in einem der erbitterten Partei¬ kämpfe, die im fünfzehnten Jahrhundert Frankreich zerfleischten, und zugleich als Dichter eine Rolle spielte, dann eine sehr lesenswerthe, mit Geist und Kenntniß geschrieben Betrachtung des Verhaltens Voltaire's zu Shakespeare, ferner eine Geschichte und Schilderung der französischen Akademie, welche all¬ gemeines Interesse beansprucht, endlich ein Lebensbild des 1780 jung verstor¬ benen Dichters Gilbert. In Betreff der Stellung Voltaire's zu Shakespeare kommt der Verfasser zu folgendem Ergebniß. Voltaire's Grundanschauungen über die Tragödie sind nie ernstlich von Shakespeare'scher Freiheit affizirt worden. Er hat nur die allerunwesentlichste der Einheiten, die des Ortes, durchbrochen, Er hat allerdings Wünsche gehegt in Bezug auf Belebung der Handlung, er hat mit Glück den Versuch gemacht, gegen die öde Langweilig¬ keit des klassischen Drama's anzukämpfen, aber die ernsthaften Konsequenzen hat er nie gezogen. Die Vorzüge des englischen Theaters hat er nie ver¬ kannt, aber er meinte in der reinen Formvollendung des klassischen Drama's diesen Vorzügen gleichwerthige entgegensetzen zu können. Er glaubte ferner, daß die Entdeckung und Verbreitung Shakespeare's ihm Ansprüche auf Dank¬ barkeit sichere; nur sah er leider Shakespeare als sein Monopol an, welches ihn zugleich in den Stand setzen sollte, die hervorgerufene Bewegung nach seinem Willen zu hemmen oder zu fördern. Erst, als er fühlt, daß ihm die Zügel ans den Händen genommen werden, verfällt er in jenen gereizten Ton seiner letzten Jahre, zeigt bösen Willen, entstellt und verfälscht absichtlich, wäh¬ rend dies bisher nur aus mangelndem Verständniß geschehen war. Mit der Ueberjetzung Shakespeare's durch Letourneur glaubt er das klassische Drama ernstlich bedroht; das fühlt man selbst aus den im Ganzen albernen Briefen heraus, die er an die Akademie richtete. Dazu kommt das Bewußtsein per¬ sönlicher Schwäche, der Druck des Greisenalters. Er empfindet bitter, daß man den alten Kranken von Ferney zu den Akten gelegt hat. Das alles er¬ klärt die maßlose Heftigkeit seiner letzten Augriffe. „Voltaire hat Shakespeare nicht verstanden, wenn er gleich seine Größe instinktiv fühlte, das ist das ganze Geheimniß. Hier ist der Schlüssel zu den anscheinend so widersprechenden Er¬ scheinungen in seinem Verhältniß zu ihm." Verantwortlicher Redakteur: Dr. Haus Blum in Leipzig. Verlag von F. L. Hevtig in Leipzig. — Druck von Hiithcl Herrmann in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/444>, abgerufen am 26.05.2024.