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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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Ilerdinand Lassalle.
i.

Wenn man die Lebensperioden der Völker nach den unter ihnen auftre¬
tenden großen und einflußreichen Männern bezeichnen darf, so ist bei uns
Deutschen auf die Periode Schiller-Goethe eine Periode Hegel und anf diese
die noch währende Periode Bismcirck gefolgt. Unter den Physiognomien aber,
welche in der Uebergangszeit zwischen den beiden letzten die Blicke anf sich
lenkten, ist die von Ferdinand Lassalle, dem Begründer der deutschen Sozial¬
demokratie, eine der inhaltreichsten und interessantesten, und so wollen wir sie
im Nachstehenden einmal nach den neuesten über den Charakter und das Leben
desselben gefüllten Urtheilen betrachten.*)

Lassalle war ein hochbegabter Geist, von seltnem Scharfsinn, der Form
mächtig wie Wenige neben ihm, schon als junger Mann ein tief und vielseitig
ausgebildeter Gelehrter. Das wird jetzt nachgerade allgemein zugestanden.
Schwerer ist er nach seinen sittlichen Eigenschaften zu charakterisiren. Eine
gewisse Größe leuchtet auch hier ans seinem Thun heraus, aber mit glänzenden
Vorzügen paaren sich in dieser Beziehung bei ihm unlösbar häßliche Schwächen,
so daß in seinem Handeln jederzeit gemischte Beweggründe wirken. Von An¬
fang seiner Laufbahn an, wo er als Vertheidiger der Gräfin Hatzfeldt auf¬
trat, bis zu seiner letzten Rolle als Arbeiteragitatvr ist er sicher nie bloß per¬
sönlichen, schwerlich aber auch jemals rein idealen Motiven gefolgt. Wie bei
vielen genialen Naturen war in ihm etwas vou Faust und etwas von Don
Juan. Ein titanenhafter Zug ging durch sein ganzes Wesen. In seinem
Innern waltete ein Element, das dem Feuer glich. Seine glühende Liebe zur



*) Wir folgen hierbei im Wesentlichen den soeben erschienenen und von uns bereits
angezeigten Schriften: Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild von G,
Brandes (Berlin, Franz Duncker) und: Zur Geschichte der deutscheu Sozialdc-
mokrntie. Ein historischer Versuch von Franz Mehring (Magdeburg, A. und R.
Faber).
Grenzboten II. 1877. Lo
Ilerdinand Lassalle.
i.

Wenn man die Lebensperioden der Völker nach den unter ihnen auftre¬
tenden großen und einflußreichen Männern bezeichnen darf, so ist bei uns
Deutschen auf die Periode Schiller-Goethe eine Periode Hegel und anf diese
die noch währende Periode Bismcirck gefolgt. Unter den Physiognomien aber,
welche in der Uebergangszeit zwischen den beiden letzten die Blicke anf sich
lenkten, ist die von Ferdinand Lassalle, dem Begründer der deutschen Sozial¬
demokratie, eine der inhaltreichsten und interessantesten, und so wollen wir sie
im Nachstehenden einmal nach den neuesten über den Charakter und das Leben
desselben gefüllten Urtheilen betrachten.*)

Lassalle war ein hochbegabter Geist, von seltnem Scharfsinn, der Form
mächtig wie Wenige neben ihm, schon als junger Mann ein tief und vielseitig
ausgebildeter Gelehrter. Das wird jetzt nachgerade allgemein zugestanden.
Schwerer ist er nach seinen sittlichen Eigenschaften zu charakterisiren. Eine
gewisse Größe leuchtet auch hier ans seinem Thun heraus, aber mit glänzenden
Vorzügen paaren sich in dieser Beziehung bei ihm unlösbar häßliche Schwächen,
so daß in seinem Handeln jederzeit gemischte Beweggründe wirken. Von An¬
fang seiner Laufbahn an, wo er als Vertheidiger der Gräfin Hatzfeldt auf¬
trat, bis zu seiner letzten Rolle als Arbeiteragitatvr ist er sicher nie bloß per¬
sönlichen, schwerlich aber auch jemals rein idealen Motiven gefolgt. Wie bei
vielen genialen Naturen war in ihm etwas vou Faust und etwas von Don
Juan. Ein titanenhafter Zug ging durch sein ganzes Wesen. In seinem
Innern waltete ein Element, das dem Feuer glich. Seine glühende Liebe zur



*) Wir folgen hierbei im Wesentlichen den soeben erschienenen und von uns bereits
angezeigten Schriften: Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild von G,
Brandes (Berlin, Franz Duncker) und: Zur Geschichte der deutscheu Sozialdc-
mokrntie. Ein historischer Versuch von Franz Mehring (Magdeburg, A. und R.
Faber).
Grenzboten II. 1877. Lo
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[0445] Ilerdinand Lassalle. i. Wenn man die Lebensperioden der Völker nach den unter ihnen auftre¬ tenden großen und einflußreichen Männern bezeichnen darf, so ist bei uns Deutschen auf die Periode Schiller-Goethe eine Periode Hegel und anf diese die noch währende Periode Bismcirck gefolgt. Unter den Physiognomien aber, welche in der Uebergangszeit zwischen den beiden letzten die Blicke anf sich lenkten, ist die von Ferdinand Lassalle, dem Begründer der deutschen Sozial¬ demokratie, eine der inhaltreichsten und interessantesten, und so wollen wir sie im Nachstehenden einmal nach den neuesten über den Charakter und das Leben desselben gefüllten Urtheilen betrachten.*) Lassalle war ein hochbegabter Geist, von seltnem Scharfsinn, der Form mächtig wie Wenige neben ihm, schon als junger Mann ein tief und vielseitig ausgebildeter Gelehrter. Das wird jetzt nachgerade allgemein zugestanden. Schwerer ist er nach seinen sittlichen Eigenschaften zu charakterisiren. Eine gewisse Größe leuchtet auch hier ans seinem Thun heraus, aber mit glänzenden Vorzügen paaren sich in dieser Beziehung bei ihm unlösbar häßliche Schwächen, so daß in seinem Handeln jederzeit gemischte Beweggründe wirken. Von An¬ fang seiner Laufbahn an, wo er als Vertheidiger der Gräfin Hatzfeldt auf¬ trat, bis zu seiner letzten Rolle als Arbeiteragitatvr ist er sicher nie bloß per¬ sönlichen, schwerlich aber auch jemals rein idealen Motiven gefolgt. Wie bei vielen genialen Naturen war in ihm etwas vou Faust und etwas von Don Juan. Ein titanenhafter Zug ging durch sein ganzes Wesen. In seinem Innern waltete ein Element, das dem Feuer glich. Seine glühende Liebe zur *) Wir folgen hierbei im Wesentlichen den soeben erschienenen und von uns bereits angezeigten Schriften: Ferdinand Lassalle. Ein literarisches Charakterbild von G, Brandes (Berlin, Franz Duncker) und: Zur Geschichte der deutscheu Sozialdc- mokrntie. Ein historischer Versuch von Franz Mehring (Magdeburg, A. und R. Faber). Grenzboten II. 1877. Lo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/445>, abgerufen am 17.06.2024.