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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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landläufigen Literaturgeschichten und noch an vielen andern Orten finden, für
die sich aber nirgends eine ältere, am wenigsten eine gleichzeitige Quelle nach¬
weisen läßt, ist die, daß die Nenberin in Leipzig im Oktober 1737 in ihrer
Theaterbnde am Groß-Bosischen Garten vor dem grimmischen Thore den
Harlekin feierlich von der Bühne verbannt habe. Es sei eine Art Antodast
über ihn gehalten worden, wobei eine Puppe, als Harlekin kostümirt, ans einem
ans dem Theater errichteten Scheiterhaufen verbrannt worden sei, und wozu die
Neuberin selbst ein Vorspiel oder Nachspiel gedichtet habe. Wenn A. W. von
Schlegel in seinen "Vorlesungen über dramatische Kunst" die Wendung braucht,
Gottsched habe "in Verbindung mit einer gewissen Frau Reuber (sie!), die
einer Schauspieler-Gesellschaft in Leipzig vorstand", den Hanswurst abgeschafft,
"und sie beerdigten (!) ihn feierlich mit großem Triumph", oder wenn
L. Schneider in seinen "Schauspielernovellen" (Berlin, 1839) den Hergang so
erzählt, daß Hanswurst von der Poesie im Zweikampfe getödtet worden sei,
und selbst den Titel des Reuber'schen Nachspiels anzugeben weiß -- "Der
Sieg der Vernunft" --, so sind das natürlich nur etwas phantastisch gerathene
Absenker der gewöhnlichen Tradition.

Ihr gegenüber steht ein anderer, viel weniger bekannter Bericht, der sich
in den 1759 erschienenen "Briefen, die Einführung des englischen Geschmackes
betreffend" vorfindet, auf den Dcmzel in seiner Lessingbiographie zuerst auf¬
merksau? gemacht hat, und dem sich stillschweigend I. Schmidt in seiner "Geschichte
des geistigen Lebens in Deutschland" angeschlossen hat. Der Versasser dieser
Briese erzählt, vor Reuber sei Hofmann Direktor der Leipziger Schauspieler¬
bande gewesen, und diesem schon Hütten in den Jahren 1725--1727 verschiedene
Leipziger Gelehrte, darunter auch Gottsched, gerathen, etwas zur Verbesserung
seiner Bühne zu unternehmen. "Man fragte ihn, warum er denn nicht die
Stücke des Gryphs, Lohensteins und Hallmanns spielte? Allein er behauptete,
es wäre unmöglich, weil sie in Versen wären. Verse, sprach er, lassen sich
heut zu Tage nicht mehr aufs Theater bringen; und überhaupt sind diese
Stücke zu ernsthaft und ohne lustige Person: der Chöre, die sie haben, nicht
zu gedenken. Man mochte ihm nun sagen, was man wollte, so blieb er dabei, es
lasse sich nicht thun. Anno 1728 zerschlug sich die Gesellschaft in Hamburg,
wo sie damals war, und der größte Theil der Komödianten blieb beim damaligen
Harlekin Müller, der sich zum Haupte aufwarf. Reuber aber kam mit
4 Personen nach Leipzig, in Absicht sich hier festzusetzen. Das Schlimmste
war, er hatte keinen Harlekin. Man fragte ihn daher nach den damaligen
Begriffen, voller Verwunderung, was er doch immer ohne Harlekin machen oder
wo er einen herbekommen wollte? Ich werde einen haben, war seine Antwort,
Sie werden ihn sehen, ich werde gewiß einen haben! Unterdessen hatte er


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landläufigen Literaturgeschichten und noch an vielen andern Orten finden, für
die sich aber nirgends eine ältere, am wenigsten eine gleichzeitige Quelle nach¬
weisen läßt, ist die, daß die Nenberin in Leipzig im Oktober 1737 in ihrer
Theaterbnde am Groß-Bosischen Garten vor dem grimmischen Thore den
Harlekin feierlich von der Bühne verbannt habe. Es sei eine Art Antodast
über ihn gehalten worden, wobei eine Puppe, als Harlekin kostümirt, ans einem
ans dem Theater errichteten Scheiterhaufen verbrannt worden sei, und wozu die
Neuberin selbst ein Vorspiel oder Nachspiel gedichtet habe. Wenn A. W. von
Schlegel in seinen „Vorlesungen über dramatische Kunst" die Wendung braucht,
Gottsched habe „in Verbindung mit einer gewissen Frau Reuber (sie!), die
einer Schauspieler-Gesellschaft in Leipzig vorstand", den Hanswurst abgeschafft,
„und sie beerdigten (!) ihn feierlich mit großem Triumph", oder wenn
L. Schneider in seinen „Schauspielernovellen" (Berlin, 1839) den Hergang so
erzählt, daß Hanswurst von der Poesie im Zweikampfe getödtet worden sei,
und selbst den Titel des Reuber'schen Nachspiels anzugeben weiß — „Der
Sieg der Vernunft" —, so sind das natürlich nur etwas phantastisch gerathene
Absenker der gewöhnlichen Tradition.

Ihr gegenüber steht ein anderer, viel weniger bekannter Bericht, der sich
in den 1759 erschienenen „Briefen, die Einführung des englischen Geschmackes
betreffend" vorfindet, auf den Dcmzel in seiner Lessingbiographie zuerst auf¬
merksau? gemacht hat, und dem sich stillschweigend I. Schmidt in seiner „Geschichte
des geistigen Lebens in Deutschland" angeschlossen hat. Der Versasser dieser
Briese erzählt, vor Reuber sei Hofmann Direktor der Leipziger Schauspieler¬
bande gewesen, und diesem schon Hütten in den Jahren 1725—1727 verschiedene
Leipziger Gelehrte, darunter auch Gottsched, gerathen, etwas zur Verbesserung
seiner Bühne zu unternehmen. „Man fragte ihn, warum er denn nicht die
Stücke des Gryphs, Lohensteins und Hallmanns spielte? Allein er behauptete,
es wäre unmöglich, weil sie in Versen wären. Verse, sprach er, lassen sich
heut zu Tage nicht mehr aufs Theater bringen; und überhaupt sind diese
Stücke zu ernsthaft und ohne lustige Person: der Chöre, die sie haben, nicht
zu gedenken. Man mochte ihm nun sagen, was man wollte, so blieb er dabei, es
lasse sich nicht thun. Anno 1728 zerschlug sich die Gesellschaft in Hamburg,
wo sie damals war, und der größte Theil der Komödianten blieb beim damaligen
Harlekin Müller, der sich zum Haupte aufwarf. Reuber aber kam mit
4 Personen nach Leipzig, in Absicht sich hier festzusetzen. Das Schlimmste
war, er hatte keinen Harlekin. Man fragte ihn daher nach den damaligen
Begriffen, voller Verwunderung, was er doch immer ohne Harlekin machen oder
wo er einen herbekommen wollte? Ich werde einen haben, war seine Antwort,
Sie werden ihn sehen, ich werde gewiß einen haben! Unterdessen hatte er


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[0490] landläufigen Literaturgeschichten und noch an vielen andern Orten finden, für die sich aber nirgends eine ältere, am wenigsten eine gleichzeitige Quelle nach¬ weisen läßt, ist die, daß die Nenberin in Leipzig im Oktober 1737 in ihrer Theaterbnde am Groß-Bosischen Garten vor dem grimmischen Thore den Harlekin feierlich von der Bühne verbannt habe. Es sei eine Art Antodast über ihn gehalten worden, wobei eine Puppe, als Harlekin kostümirt, ans einem ans dem Theater errichteten Scheiterhaufen verbrannt worden sei, und wozu die Neuberin selbst ein Vorspiel oder Nachspiel gedichtet habe. Wenn A. W. von Schlegel in seinen „Vorlesungen über dramatische Kunst" die Wendung braucht, Gottsched habe „in Verbindung mit einer gewissen Frau Reuber (sie!), die einer Schauspieler-Gesellschaft in Leipzig vorstand", den Hanswurst abgeschafft, „und sie beerdigten (!) ihn feierlich mit großem Triumph", oder wenn L. Schneider in seinen „Schauspielernovellen" (Berlin, 1839) den Hergang so erzählt, daß Hanswurst von der Poesie im Zweikampfe getödtet worden sei, und selbst den Titel des Reuber'schen Nachspiels anzugeben weiß — „Der Sieg der Vernunft" —, so sind das natürlich nur etwas phantastisch gerathene Absenker der gewöhnlichen Tradition. Ihr gegenüber steht ein anderer, viel weniger bekannter Bericht, der sich in den 1759 erschienenen „Briefen, die Einführung des englischen Geschmackes betreffend" vorfindet, auf den Dcmzel in seiner Lessingbiographie zuerst auf¬ merksau? gemacht hat, und dem sich stillschweigend I. Schmidt in seiner „Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland" angeschlossen hat. Der Versasser dieser Briese erzählt, vor Reuber sei Hofmann Direktor der Leipziger Schauspieler¬ bande gewesen, und diesem schon Hütten in den Jahren 1725—1727 verschiedene Leipziger Gelehrte, darunter auch Gottsched, gerathen, etwas zur Verbesserung seiner Bühne zu unternehmen. „Man fragte ihn, warum er denn nicht die Stücke des Gryphs, Lohensteins und Hallmanns spielte? Allein er behauptete, es wäre unmöglich, weil sie in Versen wären. Verse, sprach er, lassen sich heut zu Tage nicht mehr aufs Theater bringen; und überhaupt sind diese Stücke zu ernsthaft und ohne lustige Person: der Chöre, die sie haben, nicht zu gedenken. Man mochte ihm nun sagen, was man wollte, so blieb er dabei, es lasse sich nicht thun. Anno 1728 zerschlug sich die Gesellschaft in Hamburg, wo sie damals war, und der größte Theil der Komödianten blieb beim damaligen Harlekin Müller, der sich zum Haupte aufwarf. Reuber aber kam mit 4 Personen nach Leipzig, in Absicht sich hier festzusetzen. Das Schlimmste war, er hatte keinen Harlekin. Man fragte ihn daher nach den damaligen Begriffen, voller Verwunderung, was er doch immer ohne Harlekin machen oder wo er einen herbekommen wollte? Ich werde einen haben, war seine Antwort, Sie werden ihn sehen, ich werde gewiß einen haben! Unterdessen hatte er W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/490>, abgerufen am 03.05.2024.