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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Sozialistische KhroniK.

Die sozialistische Bewegung in Deutschland gleicht gewissermaßen Kaulbach's
"Hunnenschlacht" im Treppenhause des Neuen Museums. Während ein heißer
Tageskampf den irdischen Boden mit Rinnen und Trümmern bedeckt, tost die
Geisterschlacht hoch oben in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt. Von Anfang
an gingen beide Strömungen neben-, gelegentlich auch durcheinander. Und es
lag dabei in der Natur der Dinge, daß vorzugsweise konservative Denker und
Politiker Geschmack an Theorien fanden, welche zu einem Zwangsstaat führten,
der den absoluten Staat noch weit überflügelte. Rodbertus nud Wagener unter¬
stützten Lassalle, mindestens so weit er gegen den Liberalismus kämpfte und
auch uoch darüber hinaus. Daun kam aber auch eine Zeit, in welcher
das theoretische Liebäugeln mit dem Sozialismus in einen Theil der liberalen
Schlachtreihen überschlug und hier eine Verwirrung anstiftete, die glücklicher¬
weise ebenso kurze Zeit währte, als sie leider Unheil genug anrichtete.

Es waren die schönen Tage des Kathedersozialismns. Was sich 1872
bei Gründung des "Vereins für Socialpolitik" vollzog und zwar -- uach eiuer
Unsitte, welche in einem Theile der deutschen Gelehrtenwelt immer ihre An¬
hänger gefunden hat -- unter viel größerem Lärm und Spektakel vollzog, als
nach Lage der Sache irgend angezeigt erschien, war eine nothwendige Auseinan¬
dersetzung auf dem Gebiete der deutschen Nationalökonomie. Die glänzenden
Erfolge der Freihandelsschule riefen in ihren Vertretern naturgemäß eine Art
Unfehlbarkeitsbewußtsein hervor; ihre jüngeren Köpfe berauschten sich förmlich an
dem Prinzipe des la-isssr klüre et laisser g-IIm-, das sie in ganz einseitiger Weise
proklamirten, ohne irgend Rücksicht auf konkrete Verhältnisse zu nehmen. Sie
vertraten eine abstrakte Doktrin, welche in dieser schroffen Form am wenigsten
das Recht hatte, sich auf Adam Smith zu berufen und durch den dazumal
in allen Schichten der Nation gleichmäßig grassirenden Schwindelgeist eine
grelle Beleuchtung ihrer Unzulänglichkeit erhielt. Die unausbleibliche Reaktion
hiergegen war der Kathedersozialismus, der sich um seinerseits nach der be¬
kannten Erfahrung in das entgegengesetzte Extrem verrannte und seinen berech¬
tigten Kern unter einer dichten Wolke nebelhafter Träume und Phrasen, selbst
für scharfe Augen, ncchezn ganz verbarg. Seine Vertreter fehlten zunächst darin,
daß sie nicht einmal einen Versuch zu einer klaren und scharfen Formulirung
ihres Programms machten, sondern sich im Wesentlichen begnügten, hinter jede
Institution der bestehenden Ordnung ein riesiges Fragezeichen zu setzen, indem
sie es Jedem überließen, sich diese Hieroglyphe nach Belieben zu deuten. Sie
fehlten weiter darin, daß sie die sozialdemokratische Agitation, die damals


Sozialistische KhroniK.

Die sozialistische Bewegung in Deutschland gleicht gewissermaßen Kaulbach's
„Hunnenschlacht" im Treppenhause des Neuen Museums. Während ein heißer
Tageskampf den irdischen Boden mit Rinnen und Trümmern bedeckt, tost die
Geisterschlacht hoch oben in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt. Von Anfang
an gingen beide Strömungen neben-, gelegentlich auch durcheinander. Und es
lag dabei in der Natur der Dinge, daß vorzugsweise konservative Denker und
Politiker Geschmack an Theorien fanden, welche zu einem Zwangsstaat führten,
der den absoluten Staat noch weit überflügelte. Rodbertus nud Wagener unter¬
stützten Lassalle, mindestens so weit er gegen den Liberalismus kämpfte und
auch uoch darüber hinaus. Daun kam aber auch eine Zeit, in welcher
das theoretische Liebäugeln mit dem Sozialismus in einen Theil der liberalen
Schlachtreihen überschlug und hier eine Verwirrung anstiftete, die glücklicher¬
weise ebenso kurze Zeit währte, als sie leider Unheil genug anrichtete.

Es waren die schönen Tage des Kathedersozialismns. Was sich 1872
bei Gründung des „Vereins für Socialpolitik" vollzog und zwar — uach eiuer
Unsitte, welche in einem Theile der deutschen Gelehrtenwelt immer ihre An¬
hänger gefunden hat — unter viel größerem Lärm und Spektakel vollzog, als
nach Lage der Sache irgend angezeigt erschien, war eine nothwendige Auseinan¬
dersetzung auf dem Gebiete der deutschen Nationalökonomie. Die glänzenden
Erfolge der Freihandelsschule riefen in ihren Vertretern naturgemäß eine Art
Unfehlbarkeitsbewußtsein hervor; ihre jüngeren Köpfe berauschten sich förmlich an
dem Prinzipe des la-isssr klüre et laisser g-IIm-, das sie in ganz einseitiger Weise
proklamirten, ohne irgend Rücksicht auf konkrete Verhältnisse zu nehmen. Sie
vertraten eine abstrakte Doktrin, welche in dieser schroffen Form am wenigsten
das Recht hatte, sich auf Adam Smith zu berufen und durch den dazumal
in allen Schichten der Nation gleichmäßig grassirenden Schwindelgeist eine
grelle Beleuchtung ihrer Unzulänglichkeit erhielt. Die unausbleibliche Reaktion
hiergegen war der Kathedersozialismus, der sich um seinerseits nach der be¬
kannten Erfahrung in das entgegengesetzte Extrem verrannte und seinen berech¬
tigten Kern unter einer dichten Wolke nebelhafter Träume und Phrasen, selbst
für scharfe Augen, ncchezn ganz verbarg. Seine Vertreter fehlten zunächst darin,
daß sie nicht einmal einen Versuch zu einer klaren und scharfen Formulirung
ihres Programms machten, sondern sich im Wesentlichen begnügten, hinter jede
Institution der bestehenden Ordnung ein riesiges Fragezeichen zu setzen, indem
sie es Jedem überließen, sich diese Hieroglyphe nach Belieben zu deuten. Sie
fehlten weiter darin, daß sie die sozialdemokratische Agitation, die damals


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[0181] Sozialistische KhroniK. Die sozialistische Bewegung in Deutschland gleicht gewissermaßen Kaulbach's „Hunnenschlacht" im Treppenhause des Neuen Museums. Während ein heißer Tageskampf den irdischen Boden mit Rinnen und Trümmern bedeckt, tost die Geisterschlacht hoch oben in den Wolkenhöhen der Gedankenwelt. Von Anfang an gingen beide Strömungen neben-, gelegentlich auch durcheinander. Und es lag dabei in der Natur der Dinge, daß vorzugsweise konservative Denker und Politiker Geschmack an Theorien fanden, welche zu einem Zwangsstaat führten, der den absoluten Staat noch weit überflügelte. Rodbertus nud Wagener unter¬ stützten Lassalle, mindestens so weit er gegen den Liberalismus kämpfte und auch uoch darüber hinaus. Daun kam aber auch eine Zeit, in welcher das theoretische Liebäugeln mit dem Sozialismus in einen Theil der liberalen Schlachtreihen überschlug und hier eine Verwirrung anstiftete, die glücklicher¬ weise ebenso kurze Zeit währte, als sie leider Unheil genug anrichtete. Es waren die schönen Tage des Kathedersozialismns. Was sich 1872 bei Gründung des „Vereins für Socialpolitik" vollzog und zwar — uach eiuer Unsitte, welche in einem Theile der deutschen Gelehrtenwelt immer ihre An¬ hänger gefunden hat — unter viel größerem Lärm und Spektakel vollzog, als nach Lage der Sache irgend angezeigt erschien, war eine nothwendige Auseinan¬ dersetzung auf dem Gebiete der deutschen Nationalökonomie. Die glänzenden Erfolge der Freihandelsschule riefen in ihren Vertretern naturgemäß eine Art Unfehlbarkeitsbewußtsein hervor; ihre jüngeren Köpfe berauschten sich förmlich an dem Prinzipe des la-isssr klüre et laisser g-IIm-, das sie in ganz einseitiger Weise proklamirten, ohne irgend Rücksicht auf konkrete Verhältnisse zu nehmen. Sie vertraten eine abstrakte Doktrin, welche in dieser schroffen Form am wenigsten das Recht hatte, sich auf Adam Smith zu berufen und durch den dazumal in allen Schichten der Nation gleichmäßig grassirenden Schwindelgeist eine grelle Beleuchtung ihrer Unzulänglichkeit erhielt. Die unausbleibliche Reaktion hiergegen war der Kathedersozialismus, der sich um seinerseits nach der be¬ kannten Erfahrung in das entgegengesetzte Extrem verrannte und seinen berech¬ tigten Kern unter einer dichten Wolke nebelhafter Träume und Phrasen, selbst für scharfe Augen, ncchezn ganz verbarg. Seine Vertreter fehlten zunächst darin, daß sie nicht einmal einen Versuch zu einer klaren und scharfen Formulirung ihres Programms machten, sondern sich im Wesentlichen begnügten, hinter jede Institution der bestehenden Ordnung ein riesiges Fragezeichen zu setzen, indem sie es Jedem überließen, sich diese Hieroglyphe nach Belieben zu deuten. Sie fehlten weiter darin, daß sie die sozialdemokratische Agitation, die damals

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/181>, abgerufen am 28.04.2024.