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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Lin unbekannter sozialistischer Agitator der Aeforma-
tionszeit. *)

Alle Lokalgeschichten Leipzigs von Schneider's Chronicon an bis herab zu
Große's Geschichte Leipzigs erzählen, daß im Jahre 1524 in Leipzig ein Buch¬
händler Namens Johann Hergott wegen des Vertriebes lutherischer Schriften
auf dem Marktplatze enthauptet und sein Vorrath verbrannt worden sei. Die
Erzählung bildet in der Reformationsgeschichte Leipzigs eine so bekannte Episode,
daß selbst die Novellistik sich ihrer bemächtigen konnte, Elise Polko hat in
ihrer Novelle "Des Kantors Töchterlein" (Alte Herren. Hannover, 1865), die
im Jahre 1518 in Leipzig beginnt, Johannes Hergott zu einem lutherisch
gesinnten Studenten der Theologie gemacht, dessen Vater selig eine Buchdruckern
in Leipzig betrieben hätte. Besagter Hergott verliebt sich in die siebzehnjährige
Tochter des verwittweten Thomaskantors Rhau, Maria, die natürlich im Besitz
von blauen Augen und blonden Zöpfen ist. Der alte Rhan will aber als fana¬
tischer Gegner Luthers nichts von dein Liebesverhältniß wissen. Nach der
Leipziger Disputation geht die holdselige Maria in's Kloster. Den jungen
Hergott ereilt dann sein bekanntes Schicksal; Rhau besucht ihn noch am Abend
vor seiner Hinrichtung im Gefängniß und tröstet den armen Sünder.**)

Beruhte die Nachricht, so wie sie gewöhnlich gefaßt ist, auf Wahrheit, so
würde das Ereigniß in der Geschichte der Reformation einzig dastehen. Nur
Luther gedenkt gelegentlich noch eines Buchhändlers, den er das eine Mal
Johannes, das andere Mal Georg nennt, und der 1524 in Pest wegen der Ver¬
breitung reformatorischer Schriften sammt seinen Büchern verbrannt worden
sein soll.

Indessen schon K. Seidemann hat in seinen "Beiträgen zur Reformations¬
geschichte" (1846) darauf aufmerksam gemacht, daß in der ganzen gleichzeitigen
reformatorischen Literatur nicht die geringste Hindeutung auf ein derartiges




*) Der nachfolgende Artikel schließt sich ein eine interessante kleine Studie an, mit
welcher A> Kirchhofs, gegenwärtig wohl der beste Kenner auf dem Gebiete der ältern Ge¬
schichte des Buchhandels, das soeben erschienene erste Heft des neubcgrüudeten "Archivs für
Geschichte des deutschen Buchhandels"( Leipzig, Verlag des Börsenvereins der Deut¬
schen Buchhändler, 1878) eröffnet hat. Auf dieses "Archiv", welches als Vorbereitung zu
einer dereinstigen "Geschichte des deutschen Buchhandels" ins Leben gerufen worden ist, und
auf den reichen und mannichfaltigen kulturgeschichtlichen Inhalt seines vorliegenden ersten
Heftes machen wir unsere Leser ganz besonders aufmerksam.
**) Beiläufig: Der alte verwittwete Rhau mit der 17jährigen Tochter war 1S18 netto
30 Jahre alt, gehörte zu Luthers begeistertsten Anhängern, legte nach der Disputation sein
Amt in Leipzig nieder und folgte Luther nach Wittenberg, wo er eine nachmals berühmt
gewordene Druckerei anlegte. So macht man Lokalgeschichte.
Lin unbekannter sozialistischer Agitator der Aeforma-
tionszeit. *)

Alle Lokalgeschichten Leipzigs von Schneider's Chronicon an bis herab zu
Große's Geschichte Leipzigs erzählen, daß im Jahre 1524 in Leipzig ein Buch¬
händler Namens Johann Hergott wegen des Vertriebes lutherischer Schriften
auf dem Marktplatze enthauptet und sein Vorrath verbrannt worden sei. Die
Erzählung bildet in der Reformationsgeschichte Leipzigs eine so bekannte Episode,
daß selbst die Novellistik sich ihrer bemächtigen konnte, Elise Polko hat in
ihrer Novelle „Des Kantors Töchterlein" (Alte Herren. Hannover, 1865), die
im Jahre 1518 in Leipzig beginnt, Johannes Hergott zu einem lutherisch
gesinnten Studenten der Theologie gemacht, dessen Vater selig eine Buchdruckern
in Leipzig betrieben hätte. Besagter Hergott verliebt sich in die siebzehnjährige
Tochter des verwittweten Thomaskantors Rhau, Maria, die natürlich im Besitz
von blauen Augen und blonden Zöpfen ist. Der alte Rhan will aber als fana¬
tischer Gegner Luthers nichts von dein Liebesverhältniß wissen. Nach der
Leipziger Disputation geht die holdselige Maria in's Kloster. Den jungen
Hergott ereilt dann sein bekanntes Schicksal; Rhau besucht ihn noch am Abend
vor seiner Hinrichtung im Gefängniß und tröstet den armen Sünder.**)

Beruhte die Nachricht, so wie sie gewöhnlich gefaßt ist, auf Wahrheit, so
würde das Ereigniß in der Geschichte der Reformation einzig dastehen. Nur
Luther gedenkt gelegentlich noch eines Buchhändlers, den er das eine Mal
Johannes, das andere Mal Georg nennt, und der 1524 in Pest wegen der Ver¬
breitung reformatorischer Schriften sammt seinen Büchern verbrannt worden
sein soll.

Indessen schon K. Seidemann hat in seinen „Beiträgen zur Reformations¬
geschichte" (1846) darauf aufmerksam gemacht, daß in der ganzen gleichzeitigen
reformatorischen Literatur nicht die geringste Hindeutung auf ein derartiges




*) Der nachfolgende Artikel schließt sich ein eine interessante kleine Studie an, mit
welcher A> Kirchhofs, gegenwärtig wohl der beste Kenner auf dem Gebiete der ältern Ge¬
schichte des Buchhandels, das soeben erschienene erste Heft des neubcgrüudeten „Archivs für
Geschichte des deutschen Buchhandels"( Leipzig, Verlag des Börsenvereins der Deut¬
schen Buchhändler, 1878) eröffnet hat. Auf dieses „Archiv", welches als Vorbereitung zu
einer dereinstigen „Geschichte des deutschen Buchhandels" ins Leben gerufen worden ist, und
auf den reichen und mannichfaltigen kulturgeschichtlichen Inhalt seines vorliegenden ersten
Heftes machen wir unsere Leser ganz besonders aufmerksam.
**) Beiläufig: Der alte verwittwete Rhau mit der 17jährigen Tochter war 1S18 netto
30 Jahre alt, gehörte zu Luthers begeistertsten Anhängern, legte nach der Disputation sein
Amt in Leipzig nieder und folgte Luther nach Wittenberg, wo er eine nachmals berühmt
gewordene Druckerei anlegte. So macht man Lokalgeschichte.
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[0476] Lin unbekannter sozialistischer Agitator der Aeforma- tionszeit. *) Alle Lokalgeschichten Leipzigs von Schneider's Chronicon an bis herab zu Große's Geschichte Leipzigs erzählen, daß im Jahre 1524 in Leipzig ein Buch¬ händler Namens Johann Hergott wegen des Vertriebes lutherischer Schriften auf dem Marktplatze enthauptet und sein Vorrath verbrannt worden sei. Die Erzählung bildet in der Reformationsgeschichte Leipzigs eine so bekannte Episode, daß selbst die Novellistik sich ihrer bemächtigen konnte, Elise Polko hat in ihrer Novelle „Des Kantors Töchterlein" (Alte Herren. Hannover, 1865), die im Jahre 1518 in Leipzig beginnt, Johannes Hergott zu einem lutherisch gesinnten Studenten der Theologie gemacht, dessen Vater selig eine Buchdruckern in Leipzig betrieben hätte. Besagter Hergott verliebt sich in die siebzehnjährige Tochter des verwittweten Thomaskantors Rhau, Maria, die natürlich im Besitz von blauen Augen und blonden Zöpfen ist. Der alte Rhan will aber als fana¬ tischer Gegner Luthers nichts von dein Liebesverhältniß wissen. Nach der Leipziger Disputation geht die holdselige Maria in's Kloster. Den jungen Hergott ereilt dann sein bekanntes Schicksal; Rhau besucht ihn noch am Abend vor seiner Hinrichtung im Gefängniß und tröstet den armen Sünder.**) Beruhte die Nachricht, so wie sie gewöhnlich gefaßt ist, auf Wahrheit, so würde das Ereigniß in der Geschichte der Reformation einzig dastehen. Nur Luther gedenkt gelegentlich noch eines Buchhändlers, den er das eine Mal Johannes, das andere Mal Georg nennt, und der 1524 in Pest wegen der Ver¬ breitung reformatorischer Schriften sammt seinen Büchern verbrannt worden sein soll. Indessen schon K. Seidemann hat in seinen „Beiträgen zur Reformations¬ geschichte" (1846) darauf aufmerksam gemacht, daß in der ganzen gleichzeitigen reformatorischen Literatur nicht die geringste Hindeutung auf ein derartiges *) Der nachfolgende Artikel schließt sich ein eine interessante kleine Studie an, mit welcher A> Kirchhofs, gegenwärtig wohl der beste Kenner auf dem Gebiete der ältern Ge¬ schichte des Buchhandels, das soeben erschienene erste Heft des neubcgrüudeten „Archivs für Geschichte des deutschen Buchhandels"( Leipzig, Verlag des Börsenvereins der Deut¬ schen Buchhändler, 1878) eröffnet hat. Auf dieses „Archiv", welches als Vorbereitung zu einer dereinstigen „Geschichte des deutschen Buchhandels" ins Leben gerufen worden ist, und auf den reichen und mannichfaltigen kulturgeschichtlichen Inhalt seines vorliegenden ersten Heftes machen wir unsere Leser ganz besonders aufmerksam. **) Beiläufig: Der alte verwittwete Rhau mit der 17jährigen Tochter war 1S18 netto 30 Jahre alt, gehörte zu Luthers begeistertsten Anhängern, legte nach der Disputation sein Amt in Leipzig nieder und folgte Luther nach Wittenberg, wo er eine nachmals berühmt gewordene Druckerei anlegte. So macht man Lokalgeschichte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/476>, abgerufen am 28.04.2024.