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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Dom deutschen Keichstage.

Erquicklich ist der Rückblick auf die parlamentarischen Verhandlungen in
diesem ganzen Winter noch nicht gewesen; die Stimmung des gegenwärtigen
Augenblickes aber ist noch weit ungemüthlicher, als in irgend einem Zeitpunkte
vorher. Und doch vollzieht sich grade in diesem Augenblicke der bedeutsamste
legislatorische Fortschritt in der innern Organisation des Reichs seit der Er¬
richtung der Verfassung! Was ist der Grund der allgemein empfundenen Un-
behaglichkeit? Zunächst wohl der Umstand, daß das Gesetz wegen Regelung
der Stellvertretung des Reichskanzlers, welches in der letzten Zeit die Situa¬
tion beherrschte, keine der politischen Parteien befriedigt, aber auch von keiner,
welche ihre besonderen Interessen einer ans der Hand liegenden Nothwendig¬
keit unterzuordnen versteht, abgelehnt werden konnte. Diese Nothwendigkeit,
nämlich die Möglichkeit einer Vertretung des Reichskanzlers in allen seinen ver¬
fassungsmäßigen Obliegenheiten zu schassen, war so selbstverständlich, daß alles
Reden darüber von vornherein überflüssig erschien. Die Frage konnte nur das
Wie der Regelung der Vertretung sein. Auch darüber hätte ein großer prin¬
zipieller Streit kaum entbrennen können, wenn man die beabsichtigte Einrichtung le¬
diglich als das genommen hätte, was sie dem Wortlaute und den Motiven nach
sein sollte, als eine bloße Stellvertretung des Kanzlers. Der vielberufene
H 3 der Vorlage, nach welchem der Reichskanzler auch während der Dauer
der Stellvertretung jederzeit felbst in die Geschäfte eingreifen kann, hätte unter
diesem Gesichtspunkte keine Bedenken erregen können. Dieselben waren erst
eigentlich begründet, wenn man die Stellvertreter als selbstständige Minister
auffaßte. Alsdann freilich mußte sich die vielnmstrittene Frage erheben: Ob
Ministerkollegium oder Alleinherrschaft eines Ministerpräsidenten.

Lediglich dieser Umstand, daß in die Verhandlung Forderungen und Be¬
schwerden hineingetragen wurden, die strenggenommen mit dem Wortlaute des
Gesetzentwurfes nicht in nothwendiger Verbindung standen, hat der Debatte
über die Stellvertretungsvorlage ihre große politische Bedeutung gegeben. Es
wurde einmal Abrechnung gehalten über die bisherige Entwickelung der Or¬
ganisation der Reichsverwaltung, und andererseits wurde eine Perspective er¬
öffnet für den Gang dieser Entwickelung in der Zukunft. Die Frage der Er¬
richtung selbstständiger Reichsministerien ist so alt wie die Verfassung des
Norddeutschen Bundes. So oft diese Forderung von den gemäßigt liberalen
Parteien erhoben worden ist, hat man ausdrücklich betont, daß die Selbststän-
digkeit nicht im Sinne einer atomistischen Zersplitterung der Zentralverwaltung
des Reichs in einzelne hermetisch gegeneinander abgeschlossene und vollkommen


Dom deutschen Keichstage.

Erquicklich ist der Rückblick auf die parlamentarischen Verhandlungen in
diesem ganzen Winter noch nicht gewesen; die Stimmung des gegenwärtigen
Augenblickes aber ist noch weit ungemüthlicher, als in irgend einem Zeitpunkte
vorher. Und doch vollzieht sich grade in diesem Augenblicke der bedeutsamste
legislatorische Fortschritt in der innern Organisation des Reichs seit der Er¬
richtung der Verfassung! Was ist der Grund der allgemein empfundenen Un-
behaglichkeit? Zunächst wohl der Umstand, daß das Gesetz wegen Regelung
der Stellvertretung des Reichskanzlers, welches in der letzten Zeit die Situa¬
tion beherrschte, keine der politischen Parteien befriedigt, aber auch von keiner,
welche ihre besonderen Interessen einer ans der Hand liegenden Nothwendig¬
keit unterzuordnen versteht, abgelehnt werden konnte. Diese Nothwendigkeit,
nämlich die Möglichkeit einer Vertretung des Reichskanzlers in allen seinen ver¬
fassungsmäßigen Obliegenheiten zu schassen, war so selbstverständlich, daß alles
Reden darüber von vornherein überflüssig erschien. Die Frage konnte nur das
Wie der Regelung der Vertretung sein. Auch darüber hätte ein großer prin¬
zipieller Streit kaum entbrennen können, wenn man die beabsichtigte Einrichtung le¬
diglich als das genommen hätte, was sie dem Wortlaute und den Motiven nach
sein sollte, als eine bloße Stellvertretung des Kanzlers. Der vielberufene
H 3 der Vorlage, nach welchem der Reichskanzler auch während der Dauer
der Stellvertretung jederzeit felbst in die Geschäfte eingreifen kann, hätte unter
diesem Gesichtspunkte keine Bedenken erregen können. Dieselben waren erst
eigentlich begründet, wenn man die Stellvertreter als selbstständige Minister
auffaßte. Alsdann freilich mußte sich die vielnmstrittene Frage erheben: Ob
Ministerkollegium oder Alleinherrschaft eines Ministerpräsidenten.

Lediglich dieser Umstand, daß in die Verhandlung Forderungen und Be¬
schwerden hineingetragen wurden, die strenggenommen mit dem Wortlaute des
Gesetzentwurfes nicht in nothwendiger Verbindung standen, hat der Debatte
über die Stellvertretungsvorlage ihre große politische Bedeutung gegeben. Es
wurde einmal Abrechnung gehalten über die bisherige Entwickelung der Or¬
ganisation der Reichsverwaltung, und andererseits wurde eine Perspective er¬
öffnet für den Gang dieser Entwickelung in der Zukunft. Die Frage der Er¬
richtung selbstständiger Reichsministerien ist so alt wie die Verfassung des
Norddeutschen Bundes. So oft diese Forderung von den gemäßigt liberalen
Parteien erhoben worden ist, hat man ausdrücklich betont, daß die Selbststän-
digkeit nicht im Sinne einer atomistischen Zersplitterung der Zentralverwaltung
des Reichs in einzelne hermetisch gegeneinander abgeschlossene und vollkommen


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[0486] Dom deutschen Keichstage. Erquicklich ist der Rückblick auf die parlamentarischen Verhandlungen in diesem ganzen Winter noch nicht gewesen; die Stimmung des gegenwärtigen Augenblickes aber ist noch weit ungemüthlicher, als in irgend einem Zeitpunkte vorher. Und doch vollzieht sich grade in diesem Augenblicke der bedeutsamste legislatorische Fortschritt in der innern Organisation des Reichs seit der Er¬ richtung der Verfassung! Was ist der Grund der allgemein empfundenen Un- behaglichkeit? Zunächst wohl der Umstand, daß das Gesetz wegen Regelung der Stellvertretung des Reichskanzlers, welches in der letzten Zeit die Situa¬ tion beherrschte, keine der politischen Parteien befriedigt, aber auch von keiner, welche ihre besonderen Interessen einer ans der Hand liegenden Nothwendig¬ keit unterzuordnen versteht, abgelehnt werden konnte. Diese Nothwendigkeit, nämlich die Möglichkeit einer Vertretung des Reichskanzlers in allen seinen ver¬ fassungsmäßigen Obliegenheiten zu schassen, war so selbstverständlich, daß alles Reden darüber von vornherein überflüssig erschien. Die Frage konnte nur das Wie der Regelung der Vertretung sein. Auch darüber hätte ein großer prin¬ zipieller Streit kaum entbrennen können, wenn man die beabsichtigte Einrichtung le¬ diglich als das genommen hätte, was sie dem Wortlaute und den Motiven nach sein sollte, als eine bloße Stellvertretung des Kanzlers. Der vielberufene H 3 der Vorlage, nach welchem der Reichskanzler auch während der Dauer der Stellvertretung jederzeit felbst in die Geschäfte eingreifen kann, hätte unter diesem Gesichtspunkte keine Bedenken erregen können. Dieselben waren erst eigentlich begründet, wenn man die Stellvertreter als selbstständige Minister auffaßte. Alsdann freilich mußte sich die vielnmstrittene Frage erheben: Ob Ministerkollegium oder Alleinherrschaft eines Ministerpräsidenten. Lediglich dieser Umstand, daß in die Verhandlung Forderungen und Be¬ schwerden hineingetragen wurden, die strenggenommen mit dem Wortlaute des Gesetzentwurfes nicht in nothwendiger Verbindung standen, hat der Debatte über die Stellvertretungsvorlage ihre große politische Bedeutung gegeben. Es wurde einmal Abrechnung gehalten über die bisherige Entwickelung der Or¬ ganisation der Reichsverwaltung, und andererseits wurde eine Perspective er¬ öffnet für den Gang dieser Entwickelung in der Zukunft. Die Frage der Er¬ richtung selbstständiger Reichsministerien ist so alt wie die Verfassung des Norddeutschen Bundes. So oft diese Forderung von den gemäßigt liberalen Parteien erhoben worden ist, hat man ausdrücklich betont, daß die Selbststän- digkeit nicht im Sinne einer atomistischen Zersplitterung der Zentralverwaltung des Reichs in einzelne hermetisch gegeneinander abgeschlossene und vollkommen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/486>, abgerufen am 29.04.2024.