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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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um neuen Zaljr.

Mit ernster Sorge soll, so scheint es, der Deutsche dieses Jahr Weihnachten
feiern, mit ernster Sorge dem neuen Jahr entgegenblicken. Wenn nicht an
höchster Stelle vielleicht das fröhliche Friedensfest der deutschen Familie zum
Anlaß gewählt wird, die Ursache der allgemeinen Besorgniß aus dem Wege
zu räumen, so werden wir auch in das neue Jahr das Bewußtsein mit hinüber-
nehmen müssen, daß wir unter der schwersten inneren Krisis leiden, die uns
seit der Begründung des deutscheu Reiches beschieden war: der Kauzlerkrisis.
Sonderbarer Gegensatz, daß wir den bedenklichsten Verwickelungen der auswärtigen
Politik anderer Völker heute mit einem Gefühl der Sicherheit und Ruhe
zuschauen können, wie es nicht nur für uns, auch für andere europäische
Völker noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen wäre: und daß wir
gleichzeitig mächtige Einflüsse am Werke sehen müssen, um den großen Urheber
unseres Reichsfriedens, des Friedens für unsern Erdtheil, aus feiner Stellung,
seinem einzigen Wirken zu verdrängen!

Welche Sicherheit der Führung unsre auswärtigen Verhältnisse gewonnen
haben, mögen wir vor allem erkennen an unsrer olympischen Ruhe gegenüber
der orientalischen Frage, Noch jeder Krieg-, der über das europäische Besitz-
thum der Türkei, über die Stellung der Christen im osmanischen Reiche
entbrannte, hat auch Deutschland bis ans den Grund erregt. Nur dieser
jüngste Krieg, vielleicht der mächtigste und erfolgreichste von allen, gestattet uns
die Rolle vollkommen neutraler Zuschauer. Wir wissen mit voller Bestimmtheit,
daß kein Wort in dem künftigen Frieden stehen wird, das unsere Interessen
verletzen, uus für die Zukunft bedrohen könnte. Wir haben das erreicht, ohne
ein einziges Mal in unsrer Presse oder in unsrer Volksvertretung jenen schul¬
meisterlichen und doch wegen seiner Ohnmacht so kläglich-lächerlichen Ton anzu¬
schlagen, mit welchem England seit anderthalb Jahrzehnten jeden selbständigen
Schritt einer kontinentalen Macht begleitet. Wir rasseln nicht mit dein Säbel,


Grenzboten I. 1378, 1
um neuen Zaljr.

Mit ernster Sorge soll, so scheint es, der Deutsche dieses Jahr Weihnachten
feiern, mit ernster Sorge dem neuen Jahr entgegenblicken. Wenn nicht an
höchster Stelle vielleicht das fröhliche Friedensfest der deutschen Familie zum
Anlaß gewählt wird, die Ursache der allgemeinen Besorgniß aus dem Wege
zu räumen, so werden wir auch in das neue Jahr das Bewußtsein mit hinüber-
nehmen müssen, daß wir unter der schwersten inneren Krisis leiden, die uns
seit der Begründung des deutscheu Reiches beschieden war: der Kauzlerkrisis.
Sonderbarer Gegensatz, daß wir den bedenklichsten Verwickelungen der auswärtigen
Politik anderer Völker heute mit einem Gefühl der Sicherheit und Ruhe
zuschauen können, wie es nicht nur für uns, auch für andere europäische
Völker noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen wäre: und daß wir
gleichzeitig mächtige Einflüsse am Werke sehen müssen, um den großen Urheber
unseres Reichsfriedens, des Friedens für unsern Erdtheil, aus feiner Stellung,
seinem einzigen Wirken zu verdrängen!

Welche Sicherheit der Führung unsre auswärtigen Verhältnisse gewonnen
haben, mögen wir vor allem erkennen an unsrer olympischen Ruhe gegenüber
der orientalischen Frage, Noch jeder Krieg-, der über das europäische Besitz-
thum der Türkei, über die Stellung der Christen im osmanischen Reiche
entbrannte, hat auch Deutschland bis ans den Grund erregt. Nur dieser
jüngste Krieg, vielleicht der mächtigste und erfolgreichste von allen, gestattet uns
die Rolle vollkommen neutraler Zuschauer. Wir wissen mit voller Bestimmtheit,
daß kein Wort in dem künftigen Frieden stehen wird, das unsere Interessen
verletzen, uus für die Zukunft bedrohen könnte. Wir haben das erreicht, ohne
ein einziges Mal in unsrer Presse oder in unsrer Volksvertretung jenen schul¬
meisterlichen und doch wegen seiner Ohnmacht so kläglich-lächerlichen Ton anzu¬
schlagen, mit welchem England seit anderthalb Jahrzehnten jeden selbständigen
Schritt einer kontinentalen Macht begleitet. Wir rasseln nicht mit dein Säbel,


Grenzboten I. 1378, 1
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[0009] um neuen Zaljr. Mit ernster Sorge soll, so scheint es, der Deutsche dieses Jahr Weihnachten feiern, mit ernster Sorge dem neuen Jahr entgegenblicken. Wenn nicht an höchster Stelle vielleicht das fröhliche Friedensfest der deutschen Familie zum Anlaß gewählt wird, die Ursache der allgemeinen Besorgniß aus dem Wege zu räumen, so werden wir auch in das neue Jahr das Bewußtsein mit hinüber- nehmen müssen, daß wir unter der schwersten inneren Krisis leiden, die uns seit der Begründung des deutscheu Reiches beschieden war: der Kauzlerkrisis. Sonderbarer Gegensatz, daß wir den bedenklichsten Verwickelungen der auswärtigen Politik anderer Völker heute mit einem Gefühl der Sicherheit und Ruhe zuschauen können, wie es nicht nur für uns, auch für andere europäische Völker noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen wäre: und daß wir gleichzeitig mächtige Einflüsse am Werke sehen müssen, um den großen Urheber unseres Reichsfriedens, des Friedens für unsern Erdtheil, aus feiner Stellung, seinem einzigen Wirken zu verdrängen! Welche Sicherheit der Führung unsre auswärtigen Verhältnisse gewonnen haben, mögen wir vor allem erkennen an unsrer olympischen Ruhe gegenüber der orientalischen Frage, Noch jeder Krieg-, der über das europäische Besitz- thum der Türkei, über die Stellung der Christen im osmanischen Reiche entbrannte, hat auch Deutschland bis ans den Grund erregt. Nur dieser jüngste Krieg, vielleicht der mächtigste und erfolgreichste von allen, gestattet uns die Rolle vollkommen neutraler Zuschauer. Wir wissen mit voller Bestimmtheit, daß kein Wort in dem künftigen Frieden stehen wird, das unsere Interessen verletzen, uus für die Zukunft bedrohen könnte. Wir haben das erreicht, ohne ein einziges Mal in unsrer Presse oder in unsrer Volksvertretung jenen schul¬ meisterlichen und doch wegen seiner Ohnmacht so kläglich-lächerlichen Ton anzu¬ schlagen, mit welchem England seit anderthalb Jahrzehnten jeden selbständigen Schritt einer kontinentalen Macht begleitet. Wir rasseln nicht mit dein Säbel, Grenzboten I. 1378, 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/9>, abgerufen am 29.04.2024.