Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Landsmannschaffts Wesen zu beschäftigen, überall Erkundigungen einzuziehen
und sich die schädlichen Glieder der Akademie genau bekannt zu machen, da¬
mit in der Folge desto sicherer gegen das Uebel gewürckt werden könne,

d. 1. Juni 86.


JW Goethe.


Vorahnungen moderner AaturerKenntM bei Lucrez.

Es kann nicht Wunder nehmen, wenn Meister einer Wissenschaft, die mit
schwindelerregender Schnelle und zugleich mit fast unfehlbarer Sicherheit von einer
großen Entdeckung zu andern fortschreitet, wie die Naturwissenschaft dies thut,
für die ersten unsicheren Gehversuche auf ihrem Gebiete wenig Interesse haben.
Erfreulicher ist es freilich, wenn sich mit dem vorwärtsdringenden Streben
exakter Forschung der rückwärtsschauende Blick des Historikers verbindet, wie
dies bei dem Verfasser des "Kosmos" in staunenswerther Weise der Fall ge¬
wesen ist. Ein ähnliches Interesse für frühzeitige unvollkommne Anläufe zu
wissenschaftlicher Naturerkenntniß tritt uns gegenwärtig vielfach bei englischen
Physikern entgegen, hier aber konzentrirt es sich, so weit ich die Sache über¬
schauen kann, wesentlich auf jenes unsterbliche Gedicht, in welchem T. Lucre-
tius Carus, als wahrer Poet "die Poesie kommandirend", das Wesen der
Dinge zu entschleiern sich unterwunden hat. Statt vieler nenne ich hier nur
zwei Namen: Clerk Maxwell und Tyndall. Anders steht es in Deutschland.
Unsere großen Physiker nehmen gegenwärtig, so weit die mir bekannte Literatur
einen Schluß gestattet, von Lucrez wenig Notiz. Vielleicht darf ich bei dieser
Lage der Dinge hoffen, daß eine Skizze der bedeutsamsten Vorahnungen moderner
Naturerkcnntniß, welche uns in dem Gedichte "Vom Wesen der Dinge" begeg¬
nen, anch bei Deutschland's Naturforschern einige Aufmerksamkeit finden werde.

Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß der naturwissenschaftliche In¬
halt des lucrezischen Gedichtes nicht dem Dichter gehört. Auch sein Meister,
Epikur, kann seine Physik nnr zum kleinsten Theil als Eigenthum in Anspruch
nehmen. Der Philosoph von Gargettos, ein Verächter der Wissenschaft, hatte
sich die Grundzüge der atomistischen Physik, in welcher die antike Naturphilo¬
sophie gipfelt, wesentlich von dem großen Demokrit angeeignet, deshalb ange¬
eignet, weil er durch sie am leichtesten die Götterfurcht und Todesfurcht, nach
seiner Ansicht die größten Uebel, welche die Menschheit bedrückten, glaubte ver¬
scheuchen zu können. Aber wie für die Wissenschaft, so fehlte dem Epikur auch


Landsmannschaffts Wesen zu beschäftigen, überall Erkundigungen einzuziehen
und sich die schädlichen Glieder der Akademie genau bekannt zu machen, da¬
mit in der Folge desto sicherer gegen das Uebel gewürckt werden könne,

d. 1. Juni 86.


JW Goethe.


Vorahnungen moderner AaturerKenntM bei Lucrez.

Es kann nicht Wunder nehmen, wenn Meister einer Wissenschaft, die mit
schwindelerregender Schnelle und zugleich mit fast unfehlbarer Sicherheit von einer
großen Entdeckung zu andern fortschreitet, wie die Naturwissenschaft dies thut,
für die ersten unsicheren Gehversuche auf ihrem Gebiete wenig Interesse haben.
Erfreulicher ist es freilich, wenn sich mit dem vorwärtsdringenden Streben
exakter Forschung der rückwärtsschauende Blick des Historikers verbindet, wie
dies bei dem Verfasser des „Kosmos" in staunenswerther Weise der Fall ge¬
wesen ist. Ein ähnliches Interesse für frühzeitige unvollkommne Anläufe zu
wissenschaftlicher Naturerkenntniß tritt uns gegenwärtig vielfach bei englischen
Physikern entgegen, hier aber konzentrirt es sich, so weit ich die Sache über¬
schauen kann, wesentlich auf jenes unsterbliche Gedicht, in welchem T. Lucre-
tius Carus, als wahrer Poet „die Poesie kommandirend", das Wesen der
Dinge zu entschleiern sich unterwunden hat. Statt vieler nenne ich hier nur
zwei Namen: Clerk Maxwell und Tyndall. Anders steht es in Deutschland.
Unsere großen Physiker nehmen gegenwärtig, so weit die mir bekannte Literatur
einen Schluß gestattet, von Lucrez wenig Notiz. Vielleicht darf ich bei dieser
Lage der Dinge hoffen, daß eine Skizze der bedeutsamsten Vorahnungen moderner
Naturerkcnntniß, welche uns in dem Gedichte „Vom Wesen der Dinge" begeg¬
nen, anch bei Deutschland's Naturforschern einige Aufmerksamkeit finden werde.

Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß der naturwissenschaftliche In¬
halt des lucrezischen Gedichtes nicht dem Dichter gehört. Auch sein Meister,
Epikur, kann seine Physik nnr zum kleinsten Theil als Eigenthum in Anspruch
nehmen. Der Philosoph von Gargettos, ein Verächter der Wissenschaft, hatte
sich die Grundzüge der atomistischen Physik, in welcher die antike Naturphilo¬
sophie gipfelt, wesentlich von dem großen Demokrit angeeignet, deshalb ange¬
eignet, weil er durch sie am leichtesten die Götterfurcht und Todesfurcht, nach
seiner Ansicht die größten Uebel, welche die Menschheit bedrückten, glaubte ver¬
scheuchen zu können. Aber wie für die Wissenschaft, so fehlte dem Epikur auch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0415" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/140766"/>
            <p xml:id="ID_1293" prev="#ID_1292"> Landsmannschaffts Wesen zu beschäftigen, überall Erkundigungen einzuziehen<lb/>
und sich die schädlichen Glieder der Akademie genau bekannt zu machen, da¬<lb/>
mit in der Folge desto sicherer gegen das Uebel gewürckt werden könne,</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1294"> d. 1. Juni 86.</p><lb/>
            <note type="bibl"> JW Goethe.</note><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Vorahnungen moderner AaturerKenntM bei Lucrez.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1295"> Es kann nicht Wunder nehmen, wenn Meister einer Wissenschaft, die mit<lb/>
schwindelerregender Schnelle und zugleich mit fast unfehlbarer Sicherheit von einer<lb/>
großen Entdeckung zu andern fortschreitet, wie die Naturwissenschaft dies thut,<lb/>
für die ersten unsicheren Gehversuche auf ihrem Gebiete wenig Interesse haben.<lb/>
Erfreulicher ist es freilich, wenn sich mit dem vorwärtsdringenden Streben<lb/>
exakter Forschung der rückwärtsschauende Blick des Historikers verbindet, wie<lb/>
dies bei dem Verfasser des &#x201E;Kosmos" in staunenswerther Weise der Fall ge¬<lb/>
wesen ist. Ein ähnliches Interesse für frühzeitige unvollkommne Anläufe zu<lb/>
wissenschaftlicher Naturerkenntniß tritt uns gegenwärtig vielfach bei englischen<lb/>
Physikern entgegen, hier aber konzentrirt es sich, so weit ich die Sache über¬<lb/>
schauen kann, wesentlich auf jenes unsterbliche Gedicht, in welchem T. Lucre-<lb/>
tius Carus, als wahrer Poet &#x201E;die Poesie kommandirend", das Wesen der<lb/>
Dinge zu entschleiern sich unterwunden hat. Statt vieler nenne ich hier nur<lb/>
zwei Namen: Clerk Maxwell und Tyndall. Anders steht es in Deutschland.<lb/>
Unsere großen Physiker nehmen gegenwärtig, so weit die mir bekannte Literatur<lb/>
einen Schluß gestattet, von Lucrez wenig Notiz. Vielleicht darf ich bei dieser<lb/>
Lage der Dinge hoffen, daß eine Skizze der bedeutsamsten Vorahnungen moderner<lb/>
Naturerkcnntniß, welche uns in dem Gedichte &#x201E;Vom Wesen der Dinge" begeg¬<lb/>
nen, anch bei Deutschland's Naturforschern einige Aufmerksamkeit finden werde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1296" next="#ID_1297"> Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß der naturwissenschaftliche In¬<lb/>
halt des lucrezischen Gedichtes nicht dem Dichter gehört. Auch sein Meister,<lb/>
Epikur, kann seine Physik nnr zum kleinsten Theil als Eigenthum in Anspruch<lb/>
nehmen. Der Philosoph von Gargettos, ein Verächter der Wissenschaft, hatte<lb/>
sich die Grundzüge der atomistischen Physik, in welcher die antike Naturphilo¬<lb/>
sophie gipfelt, wesentlich von dem großen Demokrit angeeignet, deshalb ange¬<lb/>
eignet, weil er durch sie am leichtesten die Götterfurcht und Todesfurcht, nach<lb/>
seiner Ansicht die größten Uebel, welche die Menschheit bedrückten, glaubte ver¬<lb/>
scheuchen zu können. Aber wie für die Wissenschaft, so fehlte dem Epikur auch</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0415] Landsmannschaffts Wesen zu beschäftigen, überall Erkundigungen einzuziehen und sich die schädlichen Glieder der Akademie genau bekannt zu machen, da¬ mit in der Folge desto sicherer gegen das Uebel gewürckt werden könne, d. 1. Juni 86. JW Goethe. Vorahnungen moderner AaturerKenntM bei Lucrez. Es kann nicht Wunder nehmen, wenn Meister einer Wissenschaft, die mit schwindelerregender Schnelle und zugleich mit fast unfehlbarer Sicherheit von einer großen Entdeckung zu andern fortschreitet, wie die Naturwissenschaft dies thut, für die ersten unsicheren Gehversuche auf ihrem Gebiete wenig Interesse haben. Erfreulicher ist es freilich, wenn sich mit dem vorwärtsdringenden Streben exakter Forschung der rückwärtsschauende Blick des Historikers verbindet, wie dies bei dem Verfasser des „Kosmos" in staunenswerther Weise der Fall ge¬ wesen ist. Ein ähnliches Interesse für frühzeitige unvollkommne Anläufe zu wissenschaftlicher Naturerkenntniß tritt uns gegenwärtig vielfach bei englischen Physikern entgegen, hier aber konzentrirt es sich, so weit ich die Sache über¬ schauen kann, wesentlich auf jenes unsterbliche Gedicht, in welchem T. Lucre- tius Carus, als wahrer Poet „die Poesie kommandirend", das Wesen der Dinge zu entschleiern sich unterwunden hat. Statt vieler nenne ich hier nur zwei Namen: Clerk Maxwell und Tyndall. Anders steht es in Deutschland. Unsere großen Physiker nehmen gegenwärtig, so weit die mir bekannte Literatur einen Schluß gestattet, von Lucrez wenig Notiz. Vielleicht darf ich bei dieser Lage der Dinge hoffen, daß eine Skizze der bedeutsamsten Vorahnungen moderner Naturerkcnntniß, welche uns in dem Gedichte „Vom Wesen der Dinge" begeg¬ nen, anch bei Deutschland's Naturforschern einige Aufmerksamkeit finden werde. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß der naturwissenschaftliche In¬ halt des lucrezischen Gedichtes nicht dem Dichter gehört. Auch sein Meister, Epikur, kann seine Physik nnr zum kleinsten Theil als Eigenthum in Anspruch nehmen. Der Philosoph von Gargettos, ein Verächter der Wissenschaft, hatte sich die Grundzüge der atomistischen Physik, in welcher die antike Naturphilo¬ sophie gipfelt, wesentlich von dem großen Demokrit angeeignet, deshalb ange¬ eignet, weil er durch sie am leichtesten die Götterfurcht und Todesfurcht, nach seiner Ansicht die größten Uebel, welche die Menschheit bedrückten, glaubte ver¬ scheuchen zu können. Aber wie für die Wissenschaft, so fehlte dem Epikur auch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/415
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157661/415>, abgerufen am 05.05.2024.