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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Line russische AiljWin unter dem M'Ke.
V Otto Kaemmel. on

In seinein Romane "Neuland", welcher die moderne russische Gesellschaft
wie in einem Spiegel zeigt, schildert Iwan Turgenjew unter andern Anhängern
des Nihilismus auch ein junges Mädchen, Marianne Wikentjewna Ssinezki.
Die Tochter eines Generals, welcher wegen schwerer Veruntreuung uach Sibirien
verbannt worden und nach seiner Begnadigung im äußersten Elende verstorben
ist, lebt sie im Hause einer reichen Verwandten in einem der südrussischen
Gouvernements. Aber eine stolze, unabhängige Natur, wie sie ist, empfindet
sie diese Lage als eine herbe Demüthigung, sie erfüllt sich mit tiefem Wider¬
willen gegen die ganze aristokratische Gesellschaft, der sie doch durch ihre Ge¬
burt selbst angehört, gibt sich mehr und mehr dem Gedanken hin, für das
Volk thätig sein zu müssen, die große Sache seiner Befreiung von Unwissen¬
heit und äußerem Druck in die Hand zu nehmen. In ihrem ebenso ehrlichen
als unklaren Enthusiasmus verläßt sie mit einem jungen Manne, Alexej
Neshdanow, der in Petersburg sich den Nihilisten angeschlossen und kurze Zeit
vorher in der Familie, der Marianne angehört, als Hauslehrer Aufnahme ge¬
funden hat, das Hans ihrer Verwandten, um sich von dem Geschäftsführer
einer nahen Fabrik, Wassily Ssolomie, den beide sür einen Anhänger ihrer
Meinungen halten, "aussenden" zu lassen. Dort entleibt sich Neshdanow, an
feiner eignen Sache verzweifelnd und niedergedrückt von dem Gefühle, daß er
Marianne's ehrliche Begeisterung täusche, Marianne aber wird eben durch den
Verkehr mit wirklichen Leuten aus dem Volke und namentlich mit Ssolomie
inne, daß die große "That", die sie thun will, ein reines Abstraktum ist und
sich in der Wirklichkeit aus lauter kleinen unscheinbaren Thaten zusammen¬
setzt ; sie geht in die Lehre bei der Bäuerin Tatjana und wird endlich Ssolomie's
verständige Hausfrau. Diefer selbst aber übernimmt die Leitung einer neuen
Fabrik, die er auf dem Grunde einer freien Assoziation in's Leben ruft.


Gttiizboten IV. 187ej> 3V
Line russische AiljWin unter dem M'Ke.
V Otto Kaemmel. on

In seinein Romane „Neuland", welcher die moderne russische Gesellschaft
wie in einem Spiegel zeigt, schildert Iwan Turgenjew unter andern Anhängern
des Nihilismus auch ein junges Mädchen, Marianne Wikentjewna Ssinezki.
Die Tochter eines Generals, welcher wegen schwerer Veruntreuung uach Sibirien
verbannt worden und nach seiner Begnadigung im äußersten Elende verstorben
ist, lebt sie im Hause einer reichen Verwandten in einem der südrussischen
Gouvernements. Aber eine stolze, unabhängige Natur, wie sie ist, empfindet
sie diese Lage als eine herbe Demüthigung, sie erfüllt sich mit tiefem Wider¬
willen gegen die ganze aristokratische Gesellschaft, der sie doch durch ihre Ge¬
burt selbst angehört, gibt sich mehr und mehr dem Gedanken hin, für das
Volk thätig sein zu müssen, die große Sache seiner Befreiung von Unwissen¬
heit und äußerem Druck in die Hand zu nehmen. In ihrem ebenso ehrlichen
als unklaren Enthusiasmus verläßt sie mit einem jungen Manne, Alexej
Neshdanow, der in Petersburg sich den Nihilisten angeschlossen und kurze Zeit
vorher in der Familie, der Marianne angehört, als Hauslehrer Aufnahme ge¬
funden hat, das Hans ihrer Verwandten, um sich von dem Geschäftsführer
einer nahen Fabrik, Wassily Ssolomie, den beide sür einen Anhänger ihrer
Meinungen halten, „aussenden" zu lassen. Dort entleibt sich Neshdanow, an
feiner eignen Sache verzweifelnd und niedergedrückt von dem Gefühle, daß er
Marianne's ehrliche Begeisterung täusche, Marianne aber wird eben durch den
Verkehr mit wirklichen Leuten aus dem Volke und namentlich mit Ssolomie
inne, daß die große „That", die sie thun will, ein reines Abstraktum ist und
sich in der Wirklichkeit aus lauter kleinen unscheinbaren Thaten zusammen¬
setzt ; sie geht in die Lehre bei der Bäuerin Tatjana und wird endlich Ssolomie's
verständige Hausfrau. Diefer selbst aber übernimmt die Leitung einer neuen
Fabrik, die er auf dem Grunde einer freien Assoziation in's Leben ruft.


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[0285] Line russische AiljWin unter dem M'Ke. V Otto Kaemmel. on In seinein Romane „Neuland", welcher die moderne russische Gesellschaft wie in einem Spiegel zeigt, schildert Iwan Turgenjew unter andern Anhängern des Nihilismus auch ein junges Mädchen, Marianne Wikentjewna Ssinezki. Die Tochter eines Generals, welcher wegen schwerer Veruntreuung uach Sibirien verbannt worden und nach seiner Begnadigung im äußersten Elende verstorben ist, lebt sie im Hause einer reichen Verwandten in einem der südrussischen Gouvernements. Aber eine stolze, unabhängige Natur, wie sie ist, empfindet sie diese Lage als eine herbe Demüthigung, sie erfüllt sich mit tiefem Wider¬ willen gegen die ganze aristokratische Gesellschaft, der sie doch durch ihre Ge¬ burt selbst angehört, gibt sich mehr und mehr dem Gedanken hin, für das Volk thätig sein zu müssen, die große Sache seiner Befreiung von Unwissen¬ heit und äußerem Druck in die Hand zu nehmen. In ihrem ebenso ehrlichen als unklaren Enthusiasmus verläßt sie mit einem jungen Manne, Alexej Neshdanow, der in Petersburg sich den Nihilisten angeschlossen und kurze Zeit vorher in der Familie, der Marianne angehört, als Hauslehrer Aufnahme ge¬ funden hat, das Hans ihrer Verwandten, um sich von dem Geschäftsführer einer nahen Fabrik, Wassily Ssolomie, den beide sür einen Anhänger ihrer Meinungen halten, „aussenden" zu lassen. Dort entleibt sich Neshdanow, an feiner eignen Sache verzweifelnd und niedergedrückt von dem Gefühle, daß er Marianne's ehrliche Begeisterung täusche, Marianne aber wird eben durch den Verkehr mit wirklichen Leuten aus dem Volke und namentlich mit Ssolomie inne, daß die große „That", die sie thun will, ein reines Abstraktum ist und sich in der Wirklichkeit aus lauter kleinen unscheinbaren Thaten zusammen¬ setzt ; sie geht in die Lehre bei der Bäuerin Tatjana und wird endlich Ssolomie's verständige Hausfrau. Diefer selbst aber übernimmt die Leitung einer neuen Fabrik, die er auf dem Grunde einer freien Assoziation in's Leben ruft. Gttiizboten IV. 187ej> 3V

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/285>, abgerufen am 29.04.2024.