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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Im Folgenden möchten wir dieser Darstellung des Dichters, die versöh¬
nend abschließt, ein Bild ans der Wirklichkeit entgegenstellen, nur daß ans ihm
die düstre Färbung tragischen Geschickes liegt.

Während des Jahres 1873 ließ sich von irgend welchem nihilistischen
Konnte' eine junge Russin gebildeten Standes zur Propaganda in's "Volk"
entsenden. Sie hat ihre Erlebnisse ausführlich in der Genfer "Obschtschina"
("Kommune") geschildert. Damals etwa 30 Jahre alt, von guter Bildung, weiß
sie scharf zu beobachten, anschaulich und eingehend zu berichten. Es stört sie
nicht, daß sie, schwerer Arbeit ungewohnt und körperlich überhaupt nicht eben
kräftig, Monate durch von jedem ihr angemessenen Umgänge abgeschlossen auf
dem Lande unter Bauern und Fabrikarbeitern leben muß; sie kleidet sich
ruhig in die Tracht einer russischen Bäuerin, läuft barfuß, sucht scheinbar ihr
Brod als Stickerin oder Näherin, oder im Hausirhandel mit Leinwand, scheut
sich nicht, mit rohen Männern zu verkehren, läßt sich nicht durch Gleichgiltig-
keit oder offne Abweisung niederdrücken, zeigt stets und überall die ungebro¬
chene Energie des Fanatismus. Daß der Schauplatz ihrer Wirksamkeit in drei
südrussischen Gouvernements gelegen ist, bereitet ihr noch ganz besondere
Schwierigkeiten; denn sie ist der kleinrussischen Sprache, welche sich von dem
Großrussischen bedeutend unterscheidet, nur unvollkommen mächtig; aber sie
weiß auch dies Hinderniß zu überwinden. Doch was will sie überhaupt, was
thut sie? Es gilt, in dem Volke das Bewußtsein feiner elenden Lage zu er¬
wecken durch eingehendes Gespräch mit dem Einzelnen, dessen Vertrauen zu
gewinnen bei der Art ihres Auftretens und dem gutmüthigen Charakter der
Kleinrussen ihr nicht schwer fällt, durch Vorlesen kleiner populärer Schriften
nihilistischer Tendenz auch in größerem Kreise, und so den Boden vorzubereiten
für die allgemeine Erhebung der Massen gegen die bestehende Ordnung des
Staates und der Gesellschaft. Eben daß sie das gesprochene Wort durch das
gedruckte belegen kann, gibt ihr über diese Menschen, die in stummer Ehrfurcht
die Künste des Lesens und Schreibens als eine fremdartige Weisheit bewun¬
dern, eine von ihr selbst Anfangs nicht geahnte Autorität. Wenn sie trotzdem
niemals Verdacht erregt hat, so erklärt sie dies selbst einmal aus der Ge¬
wöhnung der Bauern in den größeren Orten Südrußland's, mit städtisch Ge¬
bildeten zu verkehren, und dann aus ihrer Gutmüthigkeit, die selbst das, was
an einem neuen Bekannten etwa auffällig hervortritt, zu seinem Besten aus¬
lege. Nur die Frauen, meint die Verfasserin, hätten sich gelegentlich anzüg¬
licher Bemerkungen nicht enthalten.

So hat sie 3^ Monate hindurch an verschiedenen Orten für die "Volks¬
sache" gewirkt. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Erfolgen, das
mag zum Theil mit ihren eigenen Worten erzählt werden.


Im Folgenden möchten wir dieser Darstellung des Dichters, die versöh¬
nend abschließt, ein Bild ans der Wirklichkeit entgegenstellen, nur daß ans ihm
die düstre Färbung tragischen Geschickes liegt.

Während des Jahres 1873 ließ sich von irgend welchem nihilistischen
Konnte' eine junge Russin gebildeten Standes zur Propaganda in's „Volk"
entsenden. Sie hat ihre Erlebnisse ausführlich in der Genfer „Obschtschina"
(„Kommune") geschildert. Damals etwa 30 Jahre alt, von guter Bildung, weiß
sie scharf zu beobachten, anschaulich und eingehend zu berichten. Es stört sie
nicht, daß sie, schwerer Arbeit ungewohnt und körperlich überhaupt nicht eben
kräftig, Monate durch von jedem ihr angemessenen Umgänge abgeschlossen auf
dem Lande unter Bauern und Fabrikarbeitern leben muß; sie kleidet sich
ruhig in die Tracht einer russischen Bäuerin, läuft barfuß, sucht scheinbar ihr
Brod als Stickerin oder Näherin, oder im Hausirhandel mit Leinwand, scheut
sich nicht, mit rohen Männern zu verkehren, läßt sich nicht durch Gleichgiltig-
keit oder offne Abweisung niederdrücken, zeigt stets und überall die ungebro¬
chene Energie des Fanatismus. Daß der Schauplatz ihrer Wirksamkeit in drei
südrussischen Gouvernements gelegen ist, bereitet ihr noch ganz besondere
Schwierigkeiten; denn sie ist der kleinrussischen Sprache, welche sich von dem
Großrussischen bedeutend unterscheidet, nur unvollkommen mächtig; aber sie
weiß auch dies Hinderniß zu überwinden. Doch was will sie überhaupt, was
thut sie? Es gilt, in dem Volke das Bewußtsein feiner elenden Lage zu er¬
wecken durch eingehendes Gespräch mit dem Einzelnen, dessen Vertrauen zu
gewinnen bei der Art ihres Auftretens und dem gutmüthigen Charakter der
Kleinrussen ihr nicht schwer fällt, durch Vorlesen kleiner populärer Schriften
nihilistischer Tendenz auch in größerem Kreise, und so den Boden vorzubereiten
für die allgemeine Erhebung der Massen gegen die bestehende Ordnung des
Staates und der Gesellschaft. Eben daß sie das gesprochene Wort durch das
gedruckte belegen kann, gibt ihr über diese Menschen, die in stummer Ehrfurcht
die Künste des Lesens und Schreibens als eine fremdartige Weisheit bewun¬
dern, eine von ihr selbst Anfangs nicht geahnte Autorität. Wenn sie trotzdem
niemals Verdacht erregt hat, so erklärt sie dies selbst einmal aus der Ge¬
wöhnung der Bauern in den größeren Orten Südrußland's, mit städtisch Ge¬
bildeten zu verkehren, und dann aus ihrer Gutmüthigkeit, die selbst das, was
an einem neuen Bekannten etwa auffällig hervortritt, zu seinem Besten aus¬
lege. Nur die Frauen, meint die Verfasserin, hätten sich gelegentlich anzüg¬
licher Bemerkungen nicht enthalten.

So hat sie 3^ Monate hindurch an verschiedenen Orten für die „Volks¬
sache" gewirkt. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Erfolgen, das
mag zum Theil mit ihren eigenen Worten erzählt werden.


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[0286] Im Folgenden möchten wir dieser Darstellung des Dichters, die versöh¬ nend abschließt, ein Bild ans der Wirklichkeit entgegenstellen, nur daß ans ihm die düstre Färbung tragischen Geschickes liegt. Während des Jahres 1873 ließ sich von irgend welchem nihilistischen Konnte' eine junge Russin gebildeten Standes zur Propaganda in's „Volk" entsenden. Sie hat ihre Erlebnisse ausführlich in der Genfer „Obschtschina" („Kommune") geschildert. Damals etwa 30 Jahre alt, von guter Bildung, weiß sie scharf zu beobachten, anschaulich und eingehend zu berichten. Es stört sie nicht, daß sie, schwerer Arbeit ungewohnt und körperlich überhaupt nicht eben kräftig, Monate durch von jedem ihr angemessenen Umgänge abgeschlossen auf dem Lande unter Bauern und Fabrikarbeitern leben muß; sie kleidet sich ruhig in die Tracht einer russischen Bäuerin, läuft barfuß, sucht scheinbar ihr Brod als Stickerin oder Näherin, oder im Hausirhandel mit Leinwand, scheut sich nicht, mit rohen Männern zu verkehren, läßt sich nicht durch Gleichgiltig- keit oder offne Abweisung niederdrücken, zeigt stets und überall die ungebro¬ chene Energie des Fanatismus. Daß der Schauplatz ihrer Wirksamkeit in drei südrussischen Gouvernements gelegen ist, bereitet ihr noch ganz besondere Schwierigkeiten; denn sie ist der kleinrussischen Sprache, welche sich von dem Großrussischen bedeutend unterscheidet, nur unvollkommen mächtig; aber sie weiß auch dies Hinderniß zu überwinden. Doch was will sie überhaupt, was thut sie? Es gilt, in dem Volke das Bewußtsein feiner elenden Lage zu er¬ wecken durch eingehendes Gespräch mit dem Einzelnen, dessen Vertrauen zu gewinnen bei der Art ihres Auftretens und dem gutmüthigen Charakter der Kleinrussen ihr nicht schwer fällt, durch Vorlesen kleiner populärer Schriften nihilistischer Tendenz auch in größerem Kreise, und so den Boden vorzubereiten für die allgemeine Erhebung der Massen gegen die bestehende Ordnung des Staates und der Gesellschaft. Eben daß sie das gesprochene Wort durch das gedruckte belegen kann, gibt ihr über diese Menschen, die in stummer Ehrfurcht die Künste des Lesens und Schreibens als eine fremdartige Weisheit bewun¬ dern, eine von ihr selbst Anfangs nicht geahnte Autorität. Wenn sie trotzdem niemals Verdacht erregt hat, so erklärt sie dies selbst einmal aus der Ge¬ wöhnung der Bauern in den größeren Orten Südrußland's, mit städtisch Ge¬ bildeten zu verkehren, und dann aus ihrer Gutmüthigkeit, die selbst das, was an einem neuen Bekannten etwa auffällig hervortritt, zu seinem Besten aus¬ lege. Nur die Frauen, meint die Verfasserin, hätten sich gelegentlich anzüg¬ licher Bemerkungen nicht enthalten. So hat sie 3^ Monate hindurch an verschiedenen Orten für die „Volks¬ sache" gewirkt. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Erfolgen, das mag zum Theil mit ihren eigenen Worten erzählt werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/286>, abgerufen am 16.05.2024.