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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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politische Iriefe.
Die Reichstagseröffnung.

Der Eindruck der Thronrede ist ein außerordentlich starker gewesen, weit
stärker, als er in den Aeußerungen der Presse sich bis jetzt spiegelt. Man war
überrascht, in hohem Grade überrascht durch das Schreiben des Reichskanzlers
vom 15. Dezember. Man ist noch weit mehr überrascht durch den starken
Ton, mit welchem die Thronrede den Standpunkt des Schreibens nicht nur
wiederholt, sondern ihn zugleich weiterführt. Man ist beinahe befremdet, daß
dieses kühne Programm einer neuen Wirthschaftspolitik auf die Lippen unseres
ehrwürdigen Kaisers gelegt worden. Man war auf dies Alles auch durch das
Schreiben vom 15. Dezember nicht vorbereitet. Kein Wunder, daß die politi¬
schen Parteien, soweit sie nicht von vornherein auf der Seite des Reichskanzlers
stehen, sich noch in keiner Weise zu orientiren vermögen. Es fehlt nicht an
Stimmen heftiger Opposition, aber diese Stimmen entbehren zugleich jeglicher
Zuversicht. Die Schlacht ist noch nicht geschlagen, hat noch nicht einmal be¬
gonnen und gilt schon für verloren. Sollte diese Stimmung nicht dahin
führen, anstatt des Kampfes lieber den Ausgleich zu suchen? Ja, wenn nur
zum Ausgleich, das heißt doch zum Verlassen einer Position, in der man. sich
ganz unnütz eingenistet und hat einnisten lassen, nicht Manövrirkunst gehörte,
gerade wie zum Rückzug aus einer zu weit vorgeschobenen militärischen Posi¬
tion. Manövriren aber kann nur ein Führer, und unsere parlamentarischen
Parteien, mit Ausnahme des Zentrums, haben keine Führer oder höchstens dem
Namen nach.

Für die Entscheidung über die Zoll- und Steuerreform im Reichstage
kommen die drei großen Parteien in Betracht: das Zentrum, die vereinigten
Konservativen und die Nationalliberalen. Das Zentrum befindet sich diesmal
in einer außerordentlich günstigen Lage. Es kann den Plänen des Reichs¬
kanzlers zustimmen, kann dadurch den Ausgleich mit Rom, wenn dies den
Führern des Zentrums opportun erscheint oder ihnen auferlegt wird, fördern,


Grenzboten I. 187ö. 37
politische Iriefe.
Die Reichstagseröffnung.

Der Eindruck der Thronrede ist ein außerordentlich starker gewesen, weit
stärker, als er in den Aeußerungen der Presse sich bis jetzt spiegelt. Man war
überrascht, in hohem Grade überrascht durch das Schreiben des Reichskanzlers
vom 15. Dezember. Man ist noch weit mehr überrascht durch den starken
Ton, mit welchem die Thronrede den Standpunkt des Schreibens nicht nur
wiederholt, sondern ihn zugleich weiterführt. Man ist beinahe befremdet, daß
dieses kühne Programm einer neuen Wirthschaftspolitik auf die Lippen unseres
ehrwürdigen Kaisers gelegt worden. Man war auf dies Alles auch durch das
Schreiben vom 15. Dezember nicht vorbereitet. Kein Wunder, daß die politi¬
schen Parteien, soweit sie nicht von vornherein auf der Seite des Reichskanzlers
stehen, sich noch in keiner Weise zu orientiren vermögen. Es fehlt nicht an
Stimmen heftiger Opposition, aber diese Stimmen entbehren zugleich jeglicher
Zuversicht. Die Schlacht ist noch nicht geschlagen, hat noch nicht einmal be¬
gonnen und gilt schon für verloren. Sollte diese Stimmung nicht dahin
führen, anstatt des Kampfes lieber den Ausgleich zu suchen? Ja, wenn nur
zum Ausgleich, das heißt doch zum Verlassen einer Position, in der man. sich
ganz unnütz eingenistet und hat einnisten lassen, nicht Manövrirkunst gehörte,
gerade wie zum Rückzug aus einer zu weit vorgeschobenen militärischen Posi¬
tion. Manövriren aber kann nur ein Führer, und unsere parlamentarischen
Parteien, mit Ausnahme des Zentrums, haben keine Führer oder höchstens dem
Namen nach.

Für die Entscheidung über die Zoll- und Steuerreform im Reichstage
kommen die drei großen Parteien in Betracht: das Zentrum, die vereinigten
Konservativen und die Nationalliberalen. Das Zentrum befindet sich diesmal
in einer außerordentlich günstigen Lage. Es kann den Plänen des Reichs¬
kanzlers zustimmen, kann dadurch den Ausgleich mit Rom, wenn dies den
Führern des Zentrums opportun erscheint oder ihnen auferlegt wird, fördern,


Grenzboten I. 187ö. 37
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[0293] politische Iriefe. Die Reichstagseröffnung. Der Eindruck der Thronrede ist ein außerordentlich starker gewesen, weit stärker, als er in den Aeußerungen der Presse sich bis jetzt spiegelt. Man war überrascht, in hohem Grade überrascht durch das Schreiben des Reichskanzlers vom 15. Dezember. Man ist noch weit mehr überrascht durch den starken Ton, mit welchem die Thronrede den Standpunkt des Schreibens nicht nur wiederholt, sondern ihn zugleich weiterführt. Man ist beinahe befremdet, daß dieses kühne Programm einer neuen Wirthschaftspolitik auf die Lippen unseres ehrwürdigen Kaisers gelegt worden. Man war auf dies Alles auch durch das Schreiben vom 15. Dezember nicht vorbereitet. Kein Wunder, daß die politi¬ schen Parteien, soweit sie nicht von vornherein auf der Seite des Reichskanzlers stehen, sich noch in keiner Weise zu orientiren vermögen. Es fehlt nicht an Stimmen heftiger Opposition, aber diese Stimmen entbehren zugleich jeglicher Zuversicht. Die Schlacht ist noch nicht geschlagen, hat noch nicht einmal be¬ gonnen und gilt schon für verloren. Sollte diese Stimmung nicht dahin führen, anstatt des Kampfes lieber den Ausgleich zu suchen? Ja, wenn nur zum Ausgleich, das heißt doch zum Verlassen einer Position, in der man. sich ganz unnütz eingenistet und hat einnisten lassen, nicht Manövrirkunst gehörte, gerade wie zum Rückzug aus einer zu weit vorgeschobenen militärischen Posi¬ tion. Manövriren aber kann nur ein Führer, und unsere parlamentarischen Parteien, mit Ausnahme des Zentrums, haben keine Führer oder höchstens dem Namen nach. Für die Entscheidung über die Zoll- und Steuerreform im Reichstage kommen die drei großen Parteien in Betracht: das Zentrum, die vereinigten Konservativen und die Nationalliberalen. Das Zentrum befindet sich diesmal in einer außerordentlich günstigen Lage. Es kann den Plänen des Reichs¬ kanzlers zustimmen, kann dadurch den Ausgleich mit Rom, wenn dies den Führern des Zentrums opportun erscheint oder ihnen auferlegt wird, fördern, Grenzboten I. 187ö. 37

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/293>, abgerufen am 06.05.2024.