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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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materiellen Lebensbedingungen und der'Verantwortlichkeit für die Behandlung
derselben sich bewußt wird; es verdankt ihm den aus der eindringendsten
Diagnose geschöpften großartigen Vorschlag, die Heilung derselben zu unter¬
nehmen.

An dieser einleitenden Betrachtung möge es für heute genug sein. Aus
den reichen sechs Tagen den Gehalt erschöpfend und durchsichtig und kurz
herauszuziehen, ist ein Versuch, der am zweiten Tage nach dem Schluß einer
so mannichfaltigen Debatte nicht gelingen könnte. Der Stoff wird diesmal
weder veralten noch bis zum nächsten Briefe durch bedeutendere Ereignisse
überholt sein. Wir versparen uns den Versuch für den nächsten Brief.




Literatur.

Rechts- und Staatsphilosophie von Dr. Wilhelm Fischer. Leipzig,
Verlag für moderne Sprachen und Literatur. 1879.

Der Verfasser meint es mit seinen Betrachtungen, die zuletzt zu Prophe¬
zeiungen werden, augenscheinlich gut, aber der "Staat, den er sich ausspintisirt
hat, die Organisation der Menschheit, von der er träumt, haben nie bestanden
und werden nie entstehen, wenigstens nicht, so lange Menschen Menschen sind.
Es ist eine Menschheit ohne Fürsten und ohne Gott. "Wenn alle Staaten
Republiken geworden sind (S. 174), ist auch an deren Stelle schon die Mensch¬
heit getreten. Dann wird kein Krieg mehr sein, sondern ewiger Friede. Die
Menschen werden den letzten Rest feudaler und kirchlicher Gesinnung verloren
haben, sie werden froh sein, nicht Aristokraten oder Unterthanen, nicht Juden
oder Mohammedaner, sondern freie Menschen zu sein im vollsten und edelsten
Sinne. Es wird keine Knechtschaft mehr sein, sondern Freiheit; den Glauben
wird das Wissen, den Wahn die Wahrheit besiegen; statt der Religionen wird
die Liebe herrschen, der Gott der Menschheit, und weil die Liebe der Mensch
selbst ist, so ist der Mensch sein eigener Gott" u. s. w. Der Buddhismus,
"die höchste Religion", "der das Mitleid, die schönere und innigere Seite der
Liebe, als Inhalt und Richtschnur alles gläubigen Handelns hinstellt", wird
die Welt umgestalten, zunächst seine Anhänger (dann, dürfen wir hinzusetzen,
auch alle klebrigen) "ohne gewaltsames Umstürzen des Bestehenden auf un¬
merklichen Pfaden leise zur reinen Menschlichkeit hinüberführen und zu Buddha's
machen". Offenbar hat der Verfasser seine Studien auf einer Universität in
Utopien gemacht, und wir sind froh, daß sein goldenes Zeitalter in den nächsten
zehntausend Jahren noch keine Aussicht auf Verwirklichung hat.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. -- Druck von Hüthel Ä Herrmann in Leipzig-

materiellen Lebensbedingungen und der'Verantwortlichkeit für die Behandlung
derselben sich bewußt wird; es verdankt ihm den aus der eindringendsten
Diagnose geschöpften großartigen Vorschlag, die Heilung derselben zu unter¬
nehmen.

An dieser einleitenden Betrachtung möge es für heute genug sein. Aus
den reichen sechs Tagen den Gehalt erschöpfend und durchsichtig und kurz
herauszuziehen, ist ein Versuch, der am zweiten Tage nach dem Schluß einer
so mannichfaltigen Debatte nicht gelingen könnte. Der Stoff wird diesmal
weder veralten noch bis zum nächsten Briefe durch bedeutendere Ereignisse
überholt sein. Wir versparen uns den Versuch für den nächsten Brief.




Literatur.

Rechts- und Staatsphilosophie von Dr. Wilhelm Fischer. Leipzig,
Verlag für moderne Sprachen und Literatur. 1879.

Der Verfasser meint es mit seinen Betrachtungen, die zuletzt zu Prophe¬
zeiungen werden, augenscheinlich gut, aber der «Staat, den er sich ausspintisirt
hat, die Organisation der Menschheit, von der er träumt, haben nie bestanden
und werden nie entstehen, wenigstens nicht, so lange Menschen Menschen sind.
Es ist eine Menschheit ohne Fürsten und ohne Gott. „Wenn alle Staaten
Republiken geworden sind (S. 174), ist auch an deren Stelle schon die Mensch¬
heit getreten. Dann wird kein Krieg mehr sein, sondern ewiger Friede. Die
Menschen werden den letzten Rest feudaler und kirchlicher Gesinnung verloren
haben, sie werden froh sein, nicht Aristokraten oder Unterthanen, nicht Juden
oder Mohammedaner, sondern freie Menschen zu sein im vollsten und edelsten
Sinne. Es wird keine Knechtschaft mehr sein, sondern Freiheit; den Glauben
wird das Wissen, den Wahn die Wahrheit besiegen; statt der Religionen wird
die Liebe herrschen, der Gott der Menschheit, und weil die Liebe der Mensch
selbst ist, so ist der Mensch sein eigener Gott" u. s. w. Der Buddhismus,
„die höchste Religion", „der das Mitleid, die schönere und innigere Seite der
Liebe, als Inhalt und Richtschnur alles gläubigen Handelns hinstellt", wird
die Welt umgestalten, zunächst seine Anhänger (dann, dürfen wir hinzusetzen,
auch alle klebrigen) „ohne gewaltsames Umstürzen des Bestehenden auf un¬
merklichen Pfaden leise zur reinen Menschlichkeit hinüberführen und zu Buddha's
machen". Offenbar hat der Verfasser seine Studien auf einer Universität in
Utopien gemacht, und wir sind froh, daß sein goldenes Zeitalter in den nächsten
zehntausend Jahren noch keine Aussicht auf Verwirklichung hat.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig.
Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hüthel Ä Herrmann in Leipzig-
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[0288] materiellen Lebensbedingungen und der'Verantwortlichkeit für die Behandlung derselben sich bewußt wird; es verdankt ihm den aus der eindringendsten Diagnose geschöpften großartigen Vorschlag, die Heilung derselben zu unter¬ nehmen. An dieser einleitenden Betrachtung möge es für heute genug sein. Aus den reichen sechs Tagen den Gehalt erschöpfend und durchsichtig und kurz herauszuziehen, ist ein Versuch, der am zweiten Tage nach dem Schluß einer so mannichfaltigen Debatte nicht gelingen könnte. Der Stoff wird diesmal weder veralten noch bis zum nächsten Briefe durch bedeutendere Ereignisse überholt sein. Wir versparen uns den Versuch für den nächsten Brief. Literatur. Rechts- und Staatsphilosophie von Dr. Wilhelm Fischer. Leipzig, Verlag für moderne Sprachen und Literatur. 1879. Der Verfasser meint es mit seinen Betrachtungen, die zuletzt zu Prophe¬ zeiungen werden, augenscheinlich gut, aber der «Staat, den er sich ausspintisirt hat, die Organisation der Menschheit, von der er träumt, haben nie bestanden und werden nie entstehen, wenigstens nicht, so lange Menschen Menschen sind. Es ist eine Menschheit ohne Fürsten und ohne Gott. „Wenn alle Staaten Republiken geworden sind (S. 174), ist auch an deren Stelle schon die Mensch¬ heit getreten. Dann wird kein Krieg mehr sein, sondern ewiger Friede. Die Menschen werden den letzten Rest feudaler und kirchlicher Gesinnung verloren haben, sie werden froh sein, nicht Aristokraten oder Unterthanen, nicht Juden oder Mohammedaner, sondern freie Menschen zu sein im vollsten und edelsten Sinne. Es wird keine Knechtschaft mehr sein, sondern Freiheit; den Glauben wird das Wissen, den Wahn die Wahrheit besiegen; statt der Religionen wird die Liebe herrschen, der Gott der Menschheit, und weil die Liebe der Mensch selbst ist, so ist der Mensch sein eigener Gott" u. s. w. Der Buddhismus, „die höchste Religion", „der das Mitleid, die schönere und innigere Seite der Liebe, als Inhalt und Richtschnur alles gläubigen Handelns hinstellt", wird die Welt umgestalten, zunächst seine Anhänger (dann, dürfen wir hinzusetzen, auch alle klebrigen) „ohne gewaltsames Umstürzen des Bestehenden auf un¬ merklichen Pfaden leise zur reinen Menschlichkeit hinüberführen und zu Buddha's machen". Offenbar hat der Verfasser seine Studien auf einer Universität in Utopien gemacht, und wir sind froh, daß sein goldenes Zeitalter in den nächsten zehntausend Jahren noch keine Aussicht auf Verwirklichung hat. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Herbig in Leipzig. — Druck von Hüthel Ä Herrmann in Leipzig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/288>, abgerufen am 01.05.2024.