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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Zur wahren Größe konnten sich gleichwohl diese Debatten nicht erheben, denn
auch sie standen unter dem eigenthümlichen deutschen Schicksal, daß der eigent¬
liche Inhalt der Frage nicht zum Ausdruck gelangen konnte. Weder durften
die klerikalen Redner mit dem Weltherrschastsgedanken der Kirche hervortreten,
noch die Vertheidiger des Staats mit dem Inhalt der Reformation. Auf
klerikaler Seite berief man sich auf das subjektive Gewissen, eine Instanz, die
der Katholizismus nicht kennt -- auf staatlicher Seite berief man sich aus
Gesichtspunkte der Vereinspolizei, der bürgerlichen Eintracht und andere noth¬
wendige, aber untergeordnete Dinge dieser Art. Die sittlichen Lebensbedingungen
des deutschen Reiches, um welche es bei dem Kulturkampf sich im letzten
Grunde handelte, traten nicht in das Bewußtsein, jedenfalls nicht in das aus¬
gesprochene Bewußtsein der Kämpfenden und konnten es nicht.

Allem Anschein nach werden die Wogen des Kulturkampfes, der für
beide Theile sein Ziel verloren, zum Ablaufen gebracht werden, wenn
wir auch noch nicht genau wissen, durch welchen Kanal. Aber der Schöpfer
des deutschen Reiches, nachdem er mit einer Kunst, von der kaum ein
geringer Theil durch einzelne Zeitgenossen geahnt wird, seiner Schöpfung
auf eine gewisse Periode Sicherheit vor äußeren Störungen verschafft, sieht
nunmehr die höchste Zeit gekommen, der deutschen Staatsbildung die inneren
Physischen Lebensbedingungen zu sichern. Er legte die Hand an diese Arbeit
schon 1869, aber vergebens bei dem kurzsichtigen Widerstande der öffentlichen
Meinung, welchen der Reichstag noch steigerte. Alsdann haben der französische
Krieg und die Milliarden, die Gründung des Reiches und der Kulturkampf,
die orientalische Krise und die Aufgabe des ehrlichen Makkers die Fiuanzreform
verzögert. Mit einem gewaltigen Anstoß, wie nur er ihn zu geben vermag/
hat Fürst Bismarck jetzt die Reform der deutschen Staatswirthschaft und
Volkswirthschaft in Schwung gebracht. Um seine Pläne drehte sich die Ver¬
handlung vom 2. bis 9. Mai. Hier durfte sich das Ziel zum ersten Male in
seiner eigentlichen Gestalt enthüllen. Hier mußten anch die Gegner die Trieb¬
feder zeigen, welche sie leitet; hier wohnt der Entscheidung eine unmittelbare,
ja eine akute praktische Bedeutung bei. Hier handelt es sich um materielle
Fragen, um den Physischen Lebensunterhalt, aber damit zugleich um die
Grundsteine der politischen und sozialen Existenz bis zu entfernten Zeiten, um
die Bahnen für den Unternehmungsgeist der Nationen, um die unentbehrlichen
Hilfsmittel, um den Boden auch des moralischen Lebens. Einen Gegenstand
von solcher Faßlichkeit und solcher Größe, vou so unmittelbar gegenwärtiger
und zugleich weittragender Bedeutung hat noch nie ein deutsches Parlament
verhandelt. Es verdankt denselben in doppelter Weise dem Fürsten Bismarck:
nämlich es verdaut ihm die Möglichkeit, daß die Nation als Einheit ihrer


Zur wahren Größe konnten sich gleichwohl diese Debatten nicht erheben, denn
auch sie standen unter dem eigenthümlichen deutschen Schicksal, daß der eigent¬
liche Inhalt der Frage nicht zum Ausdruck gelangen konnte. Weder durften
die klerikalen Redner mit dem Weltherrschastsgedanken der Kirche hervortreten,
noch die Vertheidiger des Staats mit dem Inhalt der Reformation. Auf
klerikaler Seite berief man sich auf das subjektive Gewissen, eine Instanz, die
der Katholizismus nicht kennt — auf staatlicher Seite berief man sich aus
Gesichtspunkte der Vereinspolizei, der bürgerlichen Eintracht und andere noth¬
wendige, aber untergeordnete Dinge dieser Art. Die sittlichen Lebensbedingungen
des deutschen Reiches, um welche es bei dem Kulturkampf sich im letzten
Grunde handelte, traten nicht in das Bewußtsein, jedenfalls nicht in das aus¬
gesprochene Bewußtsein der Kämpfenden und konnten es nicht.

Allem Anschein nach werden die Wogen des Kulturkampfes, der für
beide Theile sein Ziel verloren, zum Ablaufen gebracht werden, wenn
wir auch noch nicht genau wissen, durch welchen Kanal. Aber der Schöpfer
des deutschen Reiches, nachdem er mit einer Kunst, von der kaum ein
geringer Theil durch einzelne Zeitgenossen geahnt wird, seiner Schöpfung
auf eine gewisse Periode Sicherheit vor äußeren Störungen verschafft, sieht
nunmehr die höchste Zeit gekommen, der deutschen Staatsbildung die inneren
Physischen Lebensbedingungen zu sichern. Er legte die Hand an diese Arbeit
schon 1869, aber vergebens bei dem kurzsichtigen Widerstande der öffentlichen
Meinung, welchen der Reichstag noch steigerte. Alsdann haben der französische
Krieg und die Milliarden, die Gründung des Reiches und der Kulturkampf,
die orientalische Krise und die Aufgabe des ehrlichen Makkers die Fiuanzreform
verzögert. Mit einem gewaltigen Anstoß, wie nur er ihn zu geben vermag/
hat Fürst Bismarck jetzt die Reform der deutschen Staatswirthschaft und
Volkswirthschaft in Schwung gebracht. Um seine Pläne drehte sich die Ver¬
handlung vom 2. bis 9. Mai. Hier durfte sich das Ziel zum ersten Male in
seiner eigentlichen Gestalt enthüllen. Hier mußten anch die Gegner die Trieb¬
feder zeigen, welche sie leitet; hier wohnt der Entscheidung eine unmittelbare,
ja eine akute praktische Bedeutung bei. Hier handelt es sich um materielle
Fragen, um den Physischen Lebensunterhalt, aber damit zugleich um die
Grundsteine der politischen und sozialen Existenz bis zu entfernten Zeiten, um
die Bahnen für den Unternehmungsgeist der Nationen, um die unentbehrlichen
Hilfsmittel, um den Boden auch des moralischen Lebens. Einen Gegenstand
von solcher Faßlichkeit und solcher Größe, vou so unmittelbar gegenwärtiger
und zugleich weittragender Bedeutung hat noch nie ein deutsches Parlament
verhandelt. Es verdankt denselben in doppelter Weise dem Fürsten Bismarck:
nämlich es verdaut ihm die Möglichkeit, daß die Nation als Einheit ihrer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/287>, abgerufen am 22.05.2024.