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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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Die Leipziger Kunstakademie.

Gibt es denn in Leipzig eine Kunstakademie? -- So hören wir den und
jenen Leser verwundert fragen. Wir aber verwundern uns über diese Frage
gar nicht. Denn abgesehen davon, daß der Prophet ja nichts in seinem Vater¬
lande gilt, und daß insonderheit der echte Deutsche über das Gute, das er in
seiner nächsten Nähe haben kann, gewöhnlich am schlechtesten unterrichtet ist --
hat die Leipziger Kunstakademie allerdings lange Zeit hindurch ein so
zurückgezogenes Dasein geführt, daß es begreiflich wäre, wenn der Leser nichts
von ihr wüßte, ein zurückgezogenes, verstecktes Dasein schon im räumlichsten
Sinne des Wortes, denn man kann dreißig Jahre lang in Leipzig gelebt haben,
Tag für Tag durch die Straßen der inneren Stadt und der Vorstädte gegangen
sein und doch keine Ahnung davon haben, wo sich die Unterrichtsräume der
Kunstschule befinden. "In dem alten Schlosse Pleißenburg ging man rechts
in der Ecke eine Wendeltreppe hinauf", schreibt Goethe in "Dichtung und
Wahrheit" über das Lokal der "Zeichenakademie", wie er es seiner Zeit als
Student in Leipzig gefunden hatte. Das war 1765. Heute aber ist es genau
noch ebenso. Noch immer geht man "in dem alten Schlosse Pleißenburg rechts
in der Ecke die Wendeltreppe hinauf"; es ist ein garstiger alter Winkel --
"wundersam und ahnungsvoll" nennt ihn Goethe in der behaglich verklärenden
Diktion seines Alters --, und wen sein Beruf nicht hinführt, der thut wohl
keinen Schritt hinein. Aber auch in anderm Sinne hat die Anstalt lange Zeit
eine so zurückgezogene Existenz geführt, wie eine Puppe in ihrem Gespinnst,
und schließlich drohte die Puppe gar zu vertrocknen, und es wurde zweifelhaft,
ob sie überhaupt noch lebens- und entwickelungsfähig sei. In den sechziger
Jahren mußte sich die sächsische Regierung auf einen im Landtage gestellten
Antrag hin allen Ernstes die Frage vorlegen, ob die Leipziger Kunstakademie
noch weiter bestehen solle oder lieber ganz aufzuheben sei. Und heute? Aus
der alten, zusammengeschrumpften Puppe ist ein schöner, bunter Falter hervor¬
gebrochen, der lebenskräftig seine Flügel regt, und dem gegenwärtig nur etwas
mehr Raum zu seiner vollen Entfaltung zu gönnen wäre.

Die Leipziger Kunstakademie hat seit einiger Zeit eine überraschende
Metamorphose durchgemacht; die stattliche Ausstellung von Schülerarbciten, die
sie soeben nach dreijähriger stiller Arbeit im Kartonsaale des Leipziger Museums
veranstaltet hat, und die für uns die eigentliche Veranlassung ist, auch weiteren
Kreisen einmal über die Anstalt zu berichten, legt ein erfreuliches Zeugniß ab
für die reorganisirende Umgestaltung, die sie in den letzten Jahren erfahren hat


Die Leipziger Kunstakademie.

Gibt es denn in Leipzig eine Kunstakademie? — So hören wir den und
jenen Leser verwundert fragen. Wir aber verwundern uns über diese Frage
gar nicht. Denn abgesehen davon, daß der Prophet ja nichts in seinem Vater¬
lande gilt, und daß insonderheit der echte Deutsche über das Gute, das er in
seiner nächsten Nähe haben kann, gewöhnlich am schlechtesten unterrichtet ist —
hat die Leipziger Kunstakademie allerdings lange Zeit hindurch ein so
zurückgezogenes Dasein geführt, daß es begreiflich wäre, wenn der Leser nichts
von ihr wüßte, ein zurückgezogenes, verstecktes Dasein schon im räumlichsten
Sinne des Wortes, denn man kann dreißig Jahre lang in Leipzig gelebt haben,
Tag für Tag durch die Straßen der inneren Stadt und der Vorstädte gegangen
sein und doch keine Ahnung davon haben, wo sich die Unterrichtsräume der
Kunstschule befinden. „In dem alten Schlosse Pleißenburg ging man rechts
in der Ecke eine Wendeltreppe hinauf", schreibt Goethe in „Dichtung und
Wahrheit" über das Lokal der „Zeichenakademie", wie er es seiner Zeit als
Student in Leipzig gefunden hatte. Das war 1765. Heute aber ist es genau
noch ebenso. Noch immer geht man „in dem alten Schlosse Pleißenburg rechts
in der Ecke die Wendeltreppe hinauf"; es ist ein garstiger alter Winkel —
„wundersam und ahnungsvoll" nennt ihn Goethe in der behaglich verklärenden
Diktion seines Alters —, und wen sein Beruf nicht hinführt, der thut wohl
keinen Schritt hinein. Aber auch in anderm Sinne hat die Anstalt lange Zeit
eine so zurückgezogene Existenz geführt, wie eine Puppe in ihrem Gespinnst,
und schließlich drohte die Puppe gar zu vertrocknen, und es wurde zweifelhaft,
ob sie überhaupt noch lebens- und entwickelungsfähig sei. In den sechziger
Jahren mußte sich die sächsische Regierung auf einen im Landtage gestellten
Antrag hin allen Ernstes die Frage vorlegen, ob die Leipziger Kunstakademie
noch weiter bestehen solle oder lieber ganz aufzuheben sei. Und heute? Aus
der alten, zusammengeschrumpften Puppe ist ein schöner, bunter Falter hervor¬
gebrochen, der lebenskräftig seine Flügel regt, und dem gegenwärtig nur etwas
mehr Raum zu seiner vollen Entfaltung zu gönnen wäre.

Die Leipziger Kunstakademie hat seit einiger Zeit eine überraschende
Metamorphose durchgemacht; die stattliche Ausstellung von Schülerarbciten, die
sie soeben nach dreijähriger stiller Arbeit im Kartonsaale des Leipziger Museums
veranstaltet hat, und die für uns die eigentliche Veranlassung ist, auch weiteren
Kreisen einmal über die Anstalt zu berichten, legt ein erfreuliches Zeugniß ab
für die reorganisirende Umgestaltung, die sie in den letzten Jahren erfahren hat


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[0334] Die Leipziger Kunstakademie. Gibt es denn in Leipzig eine Kunstakademie? — So hören wir den und jenen Leser verwundert fragen. Wir aber verwundern uns über diese Frage gar nicht. Denn abgesehen davon, daß der Prophet ja nichts in seinem Vater¬ lande gilt, und daß insonderheit der echte Deutsche über das Gute, das er in seiner nächsten Nähe haben kann, gewöhnlich am schlechtesten unterrichtet ist — hat die Leipziger Kunstakademie allerdings lange Zeit hindurch ein so zurückgezogenes Dasein geführt, daß es begreiflich wäre, wenn der Leser nichts von ihr wüßte, ein zurückgezogenes, verstecktes Dasein schon im räumlichsten Sinne des Wortes, denn man kann dreißig Jahre lang in Leipzig gelebt haben, Tag für Tag durch die Straßen der inneren Stadt und der Vorstädte gegangen sein und doch keine Ahnung davon haben, wo sich die Unterrichtsräume der Kunstschule befinden. „In dem alten Schlosse Pleißenburg ging man rechts in der Ecke eine Wendeltreppe hinauf", schreibt Goethe in „Dichtung und Wahrheit" über das Lokal der „Zeichenakademie", wie er es seiner Zeit als Student in Leipzig gefunden hatte. Das war 1765. Heute aber ist es genau noch ebenso. Noch immer geht man „in dem alten Schlosse Pleißenburg rechts in der Ecke die Wendeltreppe hinauf"; es ist ein garstiger alter Winkel — „wundersam und ahnungsvoll" nennt ihn Goethe in der behaglich verklärenden Diktion seines Alters —, und wen sein Beruf nicht hinführt, der thut wohl keinen Schritt hinein. Aber auch in anderm Sinne hat die Anstalt lange Zeit eine so zurückgezogene Existenz geführt, wie eine Puppe in ihrem Gespinnst, und schließlich drohte die Puppe gar zu vertrocknen, und es wurde zweifelhaft, ob sie überhaupt noch lebens- und entwickelungsfähig sei. In den sechziger Jahren mußte sich die sächsische Regierung auf einen im Landtage gestellten Antrag hin allen Ernstes die Frage vorlegen, ob die Leipziger Kunstakademie noch weiter bestehen solle oder lieber ganz aufzuheben sei. Und heute? Aus der alten, zusammengeschrumpften Puppe ist ein schöner, bunter Falter hervor¬ gebrochen, der lebenskräftig seine Flügel regt, und dem gegenwärtig nur etwas mehr Raum zu seiner vollen Entfaltung zu gönnen wäre. Die Leipziger Kunstakademie hat seit einiger Zeit eine überraschende Metamorphose durchgemacht; die stattliche Ausstellung von Schülerarbciten, die sie soeben nach dreijähriger stiller Arbeit im Kartonsaale des Leipziger Museums veranstaltet hat, und die für uns die eigentliche Veranlassung ist, auch weiteren Kreisen einmal über die Anstalt zu berichten, legt ein erfreuliches Zeugniß ab für die reorganisirende Umgestaltung, die sie in den letzten Jahren erfahren hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/334>, abgerufen am 01.05.2024.