Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Der jüngste Staat Lmopa's.

Wenige Tage noch, und das neueste Glied der europäischen Staatenfamilie,
das Ergebniß des Jnteressenstreites zwischen Rußland, England und Oester¬
reich nach dem Kriege von 1877, Bulgarien, wird seinen jungen Fürsten bei
sich einziehen sehen. Ueber Wien, Berlin und Paris hat sich Fürst Alexander
nach London begeben, um von da, wie es heißt, nach Rom und weiterhin nach
Konstantinopel zu gehen, von wo er sich in das Land verfügen wird, das er
zu regieren bestimmt ist. Er hat, wie zu erwarten war, bei allen Regierungen,
denen er sich vorgestellt, entgegenkommende Aufnahme gefunden, und nach
den Zeitungen zu urtheilen, sind die von ihm über die Politik, die er zu
befolgen gedenkt, abgegebenen Erklärungen überall mit Befriedigung vernommen
worden. Einigermaßen gespannt darf man sein, wie der Huldigungsakt beim
Sultan in Stambul verlaufen wird, wo man -- wir denken an die Frage,
ob Feß oder Kalpak beim Einzuge Aleko Pascha's in Philippopel und an den
Verdruß der Pforte über deren thatsächliche Beantwortung zu Gunsten der
bulgarischen Lammfellmütze -- auf geringfügige Formsachen, die sonst nur
Hofmarschälle, nicht aber Politiker interessiren, Werth zu legen pflegt. Indeß
darf man hoffen, daß auch dieser Akt unter den jetzigen Verhältnissen ohne
Anstoß verlaufen wird.

Mit weit mehr Spannung sehen wir dem entgegen, wie es dem Fürsten
gelingen wird, sich seiner Aufgabe zu entledigen, wenn er die Zügel der Regie¬
rung nun wirklich in die Hand nimmt. Hierüber läßt sich nicht weissagen.
Eins nur ist sicher, daß diese Aufgabe keine leichte ist, und daß ihre gedeih¬
liche Erfüllung einen ebenso klugen und wohlberathenen als energischen Charakter
erfordert. Das neue Staatswesen, das auch uns Deutsche vor allem insofern
interessirt, als es die Ruhe Europa's im Südosten sichern, aber auch bedrohen
kann, wird für eine Reihe von Jahren mit erheblichen Schwierigkeiten zu
kämpfen haben, mit ernsteren Schwierigkeiten als Griechenland, Serbien und
Rumänien, die ihm bei der Ablösung selbständiger Staaten aus dem Verbände
des türkischen Reiches vorangegangen sind. Sehr bedenklich sehen die Ange-


Grenzboten II. 1879. 57
Der jüngste Staat Lmopa's.

Wenige Tage noch, und das neueste Glied der europäischen Staatenfamilie,
das Ergebniß des Jnteressenstreites zwischen Rußland, England und Oester¬
reich nach dem Kriege von 1877, Bulgarien, wird seinen jungen Fürsten bei
sich einziehen sehen. Ueber Wien, Berlin und Paris hat sich Fürst Alexander
nach London begeben, um von da, wie es heißt, nach Rom und weiterhin nach
Konstantinopel zu gehen, von wo er sich in das Land verfügen wird, das er
zu regieren bestimmt ist. Er hat, wie zu erwarten war, bei allen Regierungen,
denen er sich vorgestellt, entgegenkommende Aufnahme gefunden, und nach
den Zeitungen zu urtheilen, sind die von ihm über die Politik, die er zu
befolgen gedenkt, abgegebenen Erklärungen überall mit Befriedigung vernommen
worden. Einigermaßen gespannt darf man sein, wie der Huldigungsakt beim
Sultan in Stambul verlaufen wird, wo man — wir denken an die Frage,
ob Feß oder Kalpak beim Einzuge Aleko Pascha's in Philippopel und an den
Verdruß der Pforte über deren thatsächliche Beantwortung zu Gunsten der
bulgarischen Lammfellmütze — auf geringfügige Formsachen, die sonst nur
Hofmarschälle, nicht aber Politiker interessiren, Werth zu legen pflegt. Indeß
darf man hoffen, daß auch dieser Akt unter den jetzigen Verhältnissen ohne
Anstoß verlaufen wird.

Mit weit mehr Spannung sehen wir dem entgegen, wie es dem Fürsten
gelingen wird, sich seiner Aufgabe zu entledigen, wenn er die Zügel der Regie¬
rung nun wirklich in die Hand nimmt. Hierüber läßt sich nicht weissagen.
Eins nur ist sicher, daß diese Aufgabe keine leichte ist, und daß ihre gedeih¬
liche Erfüllung einen ebenso klugen und wohlberathenen als energischen Charakter
erfordert. Das neue Staatswesen, das auch uns Deutsche vor allem insofern
interessirt, als es die Ruhe Europa's im Südosten sichern, aber auch bedrohen
kann, wird für eine Reihe von Jahren mit erheblichen Schwierigkeiten zu
kämpfen haben, mit ernsteren Schwierigkeiten als Griechenland, Serbien und
Rumänien, die ihm bei der Ablösung selbständiger Staaten aus dem Verbände
des türkischen Reiches vorangegangen sind. Sehr bedenklich sehen die Ange-


Grenzboten II. 1879. 57
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0449" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142404"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der jüngste Staat Lmopa's.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1372"> Wenige Tage noch, und das neueste Glied der europäischen Staatenfamilie,<lb/>
das Ergebniß des Jnteressenstreites zwischen Rußland, England und Oester¬<lb/>
reich nach dem Kriege von 1877, Bulgarien, wird seinen jungen Fürsten bei<lb/>
sich einziehen sehen. Ueber Wien, Berlin und Paris hat sich Fürst Alexander<lb/>
nach London begeben, um von da, wie es heißt, nach Rom und weiterhin nach<lb/>
Konstantinopel zu gehen, von wo er sich in das Land verfügen wird, das er<lb/>
zu regieren bestimmt ist. Er hat, wie zu erwarten war, bei allen Regierungen,<lb/>
denen er sich vorgestellt, entgegenkommende Aufnahme gefunden, und nach<lb/>
den Zeitungen zu urtheilen, sind die von ihm über die Politik, die er zu<lb/>
befolgen gedenkt, abgegebenen Erklärungen überall mit Befriedigung vernommen<lb/>
worden. Einigermaßen gespannt darf man sein, wie der Huldigungsakt beim<lb/>
Sultan in Stambul verlaufen wird, wo man &#x2014; wir denken an die Frage,<lb/>
ob Feß oder Kalpak beim Einzuge Aleko Pascha's in Philippopel und an den<lb/>
Verdruß der Pforte über deren thatsächliche Beantwortung zu Gunsten der<lb/>
bulgarischen Lammfellmütze &#x2014; auf geringfügige Formsachen, die sonst nur<lb/>
Hofmarschälle, nicht aber Politiker interessiren, Werth zu legen pflegt. Indeß<lb/>
darf man hoffen, daß auch dieser Akt unter den jetzigen Verhältnissen ohne<lb/>
Anstoß verlaufen wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1373" next="#ID_1374"> Mit weit mehr Spannung sehen wir dem entgegen, wie es dem Fürsten<lb/>
gelingen wird, sich seiner Aufgabe zu entledigen, wenn er die Zügel der Regie¬<lb/>
rung nun wirklich in die Hand nimmt. Hierüber läßt sich nicht weissagen.<lb/>
Eins nur ist sicher, daß diese Aufgabe keine leichte ist, und daß ihre gedeih¬<lb/>
liche Erfüllung einen ebenso klugen und wohlberathenen als energischen Charakter<lb/>
erfordert. Das neue Staatswesen, das auch uns Deutsche vor allem insofern<lb/>
interessirt, als es die Ruhe Europa's im Südosten sichern, aber auch bedrohen<lb/>
kann, wird für eine Reihe von Jahren mit erheblichen Schwierigkeiten zu<lb/>
kämpfen haben, mit ernsteren Schwierigkeiten als Griechenland, Serbien und<lb/>
Rumänien, die ihm bei der Ablösung selbständiger Staaten aus dem Verbände<lb/>
des türkischen Reiches vorangegangen sind. Sehr bedenklich sehen die Ange-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1879. 57</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0449] Der jüngste Staat Lmopa's. Wenige Tage noch, und das neueste Glied der europäischen Staatenfamilie, das Ergebniß des Jnteressenstreites zwischen Rußland, England und Oester¬ reich nach dem Kriege von 1877, Bulgarien, wird seinen jungen Fürsten bei sich einziehen sehen. Ueber Wien, Berlin und Paris hat sich Fürst Alexander nach London begeben, um von da, wie es heißt, nach Rom und weiterhin nach Konstantinopel zu gehen, von wo er sich in das Land verfügen wird, das er zu regieren bestimmt ist. Er hat, wie zu erwarten war, bei allen Regierungen, denen er sich vorgestellt, entgegenkommende Aufnahme gefunden, und nach den Zeitungen zu urtheilen, sind die von ihm über die Politik, die er zu befolgen gedenkt, abgegebenen Erklärungen überall mit Befriedigung vernommen worden. Einigermaßen gespannt darf man sein, wie der Huldigungsakt beim Sultan in Stambul verlaufen wird, wo man — wir denken an die Frage, ob Feß oder Kalpak beim Einzuge Aleko Pascha's in Philippopel und an den Verdruß der Pforte über deren thatsächliche Beantwortung zu Gunsten der bulgarischen Lammfellmütze — auf geringfügige Formsachen, die sonst nur Hofmarschälle, nicht aber Politiker interessiren, Werth zu legen pflegt. Indeß darf man hoffen, daß auch dieser Akt unter den jetzigen Verhältnissen ohne Anstoß verlaufen wird. Mit weit mehr Spannung sehen wir dem entgegen, wie es dem Fürsten gelingen wird, sich seiner Aufgabe zu entledigen, wenn er die Zügel der Regie¬ rung nun wirklich in die Hand nimmt. Hierüber läßt sich nicht weissagen. Eins nur ist sicher, daß diese Aufgabe keine leichte ist, und daß ihre gedeih¬ liche Erfüllung einen ebenso klugen und wohlberathenen als energischen Charakter erfordert. Das neue Staatswesen, das auch uns Deutsche vor allem insofern interessirt, als es die Ruhe Europa's im Südosten sichern, aber auch bedrohen kann, wird für eine Reihe von Jahren mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, mit ernsteren Schwierigkeiten als Griechenland, Serbien und Rumänien, die ihm bei der Ablösung selbständiger Staaten aus dem Verbände des türkischen Reiches vorangegangen sind. Sehr bedenklich sehen die Ange- Grenzboten II. 1879. 57

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/449
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/449>, abgerufen am 01.05.2024.