Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

binde aus, die dem Kinde von den Russen in die Wiege gelegt wurden: eine
überaus freisinnige Verfassung für ein auf niedrigster Bildungsstufe stehendes
Volk und die finanzielle Noth, welche ihm die Verwaltung der nun abziehenden
Befreier hinterlassen hat. Dazu tritt der Umstand, daß Bulgarien nicht von
einer geschlossenen Nation, sondern zugleich von Türken und Griechen bewohnt
ist, und daß die Mehrheit schwerlich klug und gerecht genug denken wird, die
Minoritäten zu schonen, daß die Bulgaren bisher keine Gelegenheit hatten,
durch Regieren das Regieren und Verwalter zu lernen, daß sie ein an sich
weicher Volksstamm sind, der durch lange Bedrückung von Seiten der Türken,
seiner politischen, und von Seiten der Griechen, seiner kirchlichen Herren, ver¬
hindert wurde, den inneren Halt zu gewinnen, der allein zur Selbstregierung
befähigt. Erinnern wir uns endlich, daß die großbnlgarische Idee, daß pan-
slavistische Tendenzen weit verbreitet find, daß hinter ihnen die russische
Intrigue steht, daß englische, österreichische und türkische Einflüsse sich dieser
in den Weg stellen und mit allen Mitteln gegen sie arbeiten werden, so ist dem
neuen Staate kaum eine ruhige Zukunft mit stetiger Entwickelung zum Bessern
zu prophezeien, wenn sich nicht bald zeigt, daß mit dem Fürsten Alexander
ein Mann von ungewöhnlichen Gaben an seine Spitze gestellt worden ist, der
sich rasch zu orientiren versteht, geschickt zwischen den Klippen zu laviren weiß
und die Kunst besitzt, statt die Dinge an sich herankommen zu lassen, sie durch
zeitgemäße und kräftige Initiative entschlossen selbst zu bestimmen. Ob der
Fürst ein Geist dieser Art ist, wird sich bald zeigen. Bis jetzt hat er dazu
noch keine Gelegenheit gehabt. Das von ihm im "Journal de Se. Petersbourg"
veröffentlichte Programm will, wie bei solchen Aeußerungen die Regel ist, nicht
viel besagen. Der größte Theil der auf die Zukunft der Balkanländer bezüg¬
lichen Stellen sieht ungefähr aus, wie wenn jemand offenstehende Thüren noch¬
mals aufzuschließen versucht. Neu, wenn auch eigentlich ohne Befugniß ge¬
äußert, ist darin die Forderung, daß sich die Pforte entschließen möge, auch
Mazedonien autonome Gestalt zu verleihen, was einer Vorbereitung zur Ab-
bröckelung auch dieser Provinz gleichkommen würde, und wozu die Pforte in
keiner Stelle des Friedensinstruments verpflichtet ist, wenn sie auch solchen
Tendenzen durch die thörichten Konstitutionalisirungs-Versuche Midhat Pascha's
in gewissem Maße Vorschub geleistet hat. Mehr Werth hat die allerdings nur
indirekte Versicherung des Fürsten, daß er darauf verzichtet hat, sich zur För¬
derung des Zusammenschmelzens der Bulgarenländer zu einer Einheit herzu¬
geben. Noch dankbarer aber wäre man ihm gewesen, wenn er uns etwas
Bestimmtes über die Stellung gesagt hätte, welche er zu den Problemen der
inneren Politik des Landes einnimmt, dessen Geschicke zu lenken er berufen ist;
denn sie sind, wie bemerkt, vorerst die wichtigsten.


binde aus, die dem Kinde von den Russen in die Wiege gelegt wurden: eine
überaus freisinnige Verfassung für ein auf niedrigster Bildungsstufe stehendes
Volk und die finanzielle Noth, welche ihm die Verwaltung der nun abziehenden
Befreier hinterlassen hat. Dazu tritt der Umstand, daß Bulgarien nicht von
einer geschlossenen Nation, sondern zugleich von Türken und Griechen bewohnt
ist, und daß die Mehrheit schwerlich klug und gerecht genug denken wird, die
Minoritäten zu schonen, daß die Bulgaren bisher keine Gelegenheit hatten,
durch Regieren das Regieren und Verwalter zu lernen, daß sie ein an sich
weicher Volksstamm sind, der durch lange Bedrückung von Seiten der Türken,
seiner politischen, und von Seiten der Griechen, seiner kirchlichen Herren, ver¬
hindert wurde, den inneren Halt zu gewinnen, der allein zur Selbstregierung
befähigt. Erinnern wir uns endlich, daß die großbnlgarische Idee, daß pan-
slavistische Tendenzen weit verbreitet find, daß hinter ihnen die russische
Intrigue steht, daß englische, österreichische und türkische Einflüsse sich dieser
in den Weg stellen und mit allen Mitteln gegen sie arbeiten werden, so ist dem
neuen Staate kaum eine ruhige Zukunft mit stetiger Entwickelung zum Bessern
zu prophezeien, wenn sich nicht bald zeigt, daß mit dem Fürsten Alexander
ein Mann von ungewöhnlichen Gaben an seine Spitze gestellt worden ist, der
sich rasch zu orientiren versteht, geschickt zwischen den Klippen zu laviren weiß
und die Kunst besitzt, statt die Dinge an sich herankommen zu lassen, sie durch
zeitgemäße und kräftige Initiative entschlossen selbst zu bestimmen. Ob der
Fürst ein Geist dieser Art ist, wird sich bald zeigen. Bis jetzt hat er dazu
noch keine Gelegenheit gehabt. Das von ihm im „Journal de Se. Petersbourg"
veröffentlichte Programm will, wie bei solchen Aeußerungen die Regel ist, nicht
viel besagen. Der größte Theil der auf die Zukunft der Balkanländer bezüg¬
lichen Stellen sieht ungefähr aus, wie wenn jemand offenstehende Thüren noch¬
mals aufzuschließen versucht. Neu, wenn auch eigentlich ohne Befugniß ge¬
äußert, ist darin die Forderung, daß sich die Pforte entschließen möge, auch
Mazedonien autonome Gestalt zu verleihen, was einer Vorbereitung zur Ab-
bröckelung auch dieser Provinz gleichkommen würde, und wozu die Pforte in
keiner Stelle des Friedensinstruments verpflichtet ist, wenn sie auch solchen
Tendenzen durch die thörichten Konstitutionalisirungs-Versuche Midhat Pascha's
in gewissem Maße Vorschub geleistet hat. Mehr Werth hat die allerdings nur
indirekte Versicherung des Fürsten, daß er darauf verzichtet hat, sich zur För¬
derung des Zusammenschmelzens der Bulgarenländer zu einer Einheit herzu¬
geben. Noch dankbarer aber wäre man ihm gewesen, wenn er uns etwas
Bestimmtes über die Stellung gesagt hätte, welche er zu den Problemen der
inneren Politik des Landes einnimmt, dessen Geschicke zu lenken er berufen ist;
denn sie sind, wie bemerkt, vorerst die wichtigsten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0450" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142405"/>
          <p xml:id="ID_1374" prev="#ID_1373"> binde aus, die dem Kinde von den Russen in die Wiege gelegt wurden: eine<lb/>
überaus freisinnige Verfassung für ein auf niedrigster Bildungsstufe stehendes<lb/>
Volk und die finanzielle Noth, welche ihm die Verwaltung der nun abziehenden<lb/>
Befreier hinterlassen hat. Dazu tritt der Umstand, daß Bulgarien nicht von<lb/>
einer geschlossenen Nation, sondern zugleich von Türken und Griechen bewohnt<lb/>
ist, und daß die Mehrheit schwerlich klug und gerecht genug denken wird, die<lb/>
Minoritäten zu schonen, daß die Bulgaren bisher keine Gelegenheit hatten,<lb/>
durch Regieren das Regieren und Verwalter zu lernen, daß sie ein an sich<lb/>
weicher Volksstamm sind, der durch lange Bedrückung von Seiten der Türken,<lb/>
seiner politischen, und von Seiten der Griechen, seiner kirchlichen Herren, ver¬<lb/>
hindert wurde, den inneren Halt zu gewinnen, der allein zur Selbstregierung<lb/>
befähigt. Erinnern wir uns endlich, daß die großbnlgarische Idee, daß pan-<lb/>
slavistische Tendenzen weit verbreitet find, daß hinter ihnen die russische<lb/>
Intrigue steht, daß englische, österreichische und türkische Einflüsse sich dieser<lb/>
in den Weg stellen und mit allen Mitteln gegen sie arbeiten werden, so ist dem<lb/>
neuen Staate kaum eine ruhige Zukunft mit stetiger Entwickelung zum Bessern<lb/>
zu prophezeien, wenn sich nicht bald zeigt, daß mit dem Fürsten Alexander<lb/>
ein Mann von ungewöhnlichen Gaben an seine Spitze gestellt worden ist, der<lb/>
sich rasch zu orientiren versteht, geschickt zwischen den Klippen zu laviren weiß<lb/>
und die Kunst besitzt, statt die Dinge an sich herankommen zu lassen, sie durch<lb/>
zeitgemäße und kräftige Initiative entschlossen selbst zu bestimmen. Ob der<lb/>
Fürst ein Geist dieser Art ist, wird sich bald zeigen. Bis jetzt hat er dazu<lb/>
noch keine Gelegenheit gehabt. Das von ihm im &#x201E;Journal de Se. Petersbourg"<lb/>
veröffentlichte Programm will, wie bei solchen Aeußerungen die Regel ist, nicht<lb/>
viel besagen. Der größte Theil der auf die Zukunft der Balkanländer bezüg¬<lb/>
lichen Stellen sieht ungefähr aus, wie wenn jemand offenstehende Thüren noch¬<lb/>
mals aufzuschließen versucht. Neu, wenn auch eigentlich ohne Befugniß ge¬<lb/>
äußert, ist darin die Forderung, daß sich die Pforte entschließen möge, auch<lb/>
Mazedonien autonome Gestalt zu verleihen, was einer Vorbereitung zur Ab-<lb/>
bröckelung auch dieser Provinz gleichkommen würde, und wozu die Pforte in<lb/>
keiner Stelle des Friedensinstruments verpflichtet ist, wenn sie auch solchen<lb/>
Tendenzen durch die thörichten Konstitutionalisirungs-Versuche Midhat Pascha's<lb/>
in gewissem Maße Vorschub geleistet hat. Mehr Werth hat die allerdings nur<lb/>
indirekte Versicherung des Fürsten, daß er darauf verzichtet hat, sich zur För¬<lb/>
derung des Zusammenschmelzens der Bulgarenländer zu einer Einheit herzu¬<lb/>
geben. Noch dankbarer aber wäre man ihm gewesen, wenn er uns etwas<lb/>
Bestimmtes über die Stellung gesagt hätte, welche er zu den Problemen der<lb/>
inneren Politik des Landes einnimmt, dessen Geschicke zu lenken er berufen ist;<lb/>
denn sie sind, wie bemerkt, vorerst die wichtigsten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0450] binde aus, die dem Kinde von den Russen in die Wiege gelegt wurden: eine überaus freisinnige Verfassung für ein auf niedrigster Bildungsstufe stehendes Volk und die finanzielle Noth, welche ihm die Verwaltung der nun abziehenden Befreier hinterlassen hat. Dazu tritt der Umstand, daß Bulgarien nicht von einer geschlossenen Nation, sondern zugleich von Türken und Griechen bewohnt ist, und daß die Mehrheit schwerlich klug und gerecht genug denken wird, die Minoritäten zu schonen, daß die Bulgaren bisher keine Gelegenheit hatten, durch Regieren das Regieren und Verwalter zu lernen, daß sie ein an sich weicher Volksstamm sind, der durch lange Bedrückung von Seiten der Türken, seiner politischen, und von Seiten der Griechen, seiner kirchlichen Herren, ver¬ hindert wurde, den inneren Halt zu gewinnen, der allein zur Selbstregierung befähigt. Erinnern wir uns endlich, daß die großbnlgarische Idee, daß pan- slavistische Tendenzen weit verbreitet find, daß hinter ihnen die russische Intrigue steht, daß englische, österreichische und türkische Einflüsse sich dieser in den Weg stellen und mit allen Mitteln gegen sie arbeiten werden, so ist dem neuen Staate kaum eine ruhige Zukunft mit stetiger Entwickelung zum Bessern zu prophezeien, wenn sich nicht bald zeigt, daß mit dem Fürsten Alexander ein Mann von ungewöhnlichen Gaben an seine Spitze gestellt worden ist, der sich rasch zu orientiren versteht, geschickt zwischen den Klippen zu laviren weiß und die Kunst besitzt, statt die Dinge an sich herankommen zu lassen, sie durch zeitgemäße und kräftige Initiative entschlossen selbst zu bestimmen. Ob der Fürst ein Geist dieser Art ist, wird sich bald zeigen. Bis jetzt hat er dazu noch keine Gelegenheit gehabt. Das von ihm im „Journal de Se. Petersbourg" veröffentlichte Programm will, wie bei solchen Aeußerungen die Regel ist, nicht viel besagen. Der größte Theil der auf die Zukunft der Balkanländer bezüg¬ lichen Stellen sieht ungefähr aus, wie wenn jemand offenstehende Thüren noch¬ mals aufzuschließen versucht. Neu, wenn auch eigentlich ohne Befugniß ge¬ äußert, ist darin die Forderung, daß sich die Pforte entschließen möge, auch Mazedonien autonome Gestalt zu verleihen, was einer Vorbereitung zur Ab- bröckelung auch dieser Provinz gleichkommen würde, und wozu die Pforte in keiner Stelle des Friedensinstruments verpflichtet ist, wenn sie auch solchen Tendenzen durch die thörichten Konstitutionalisirungs-Versuche Midhat Pascha's in gewissem Maße Vorschub geleistet hat. Mehr Werth hat die allerdings nur indirekte Versicherung des Fürsten, daß er darauf verzichtet hat, sich zur För¬ derung des Zusammenschmelzens der Bulgarenländer zu einer Einheit herzu¬ geben. Noch dankbarer aber wäre man ihm gewesen, wenn er uns etwas Bestimmtes über die Stellung gesagt hätte, welche er zu den Problemen der inneren Politik des Landes einnimmt, dessen Geschicke zu lenken er berufen ist; denn sie sind, wie bemerkt, vorerst die wichtigsten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/450
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/450>, abgerufen am 21.05.2024.