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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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energisch in der Verachtung aller Scheinnachtheile nach innen und außen.
Wenn man diese Vollmacht dem Bundesrathe gibt, so gibt man sie dem Vor¬
sitzenden desselben, solange dieser Vorsitzende Fürst Bismarck ist. Unter einem
andern Vorsitzenden wird weder dieser Vorsitzende selbst noch der Bundesrath
die Vollmacht gebrauchen, auch wenn sie noch zu Recht besteht. Sie wird
alsdann von selbst erlöschen, ohne daß für die Zurücknahme ein Mund sich rührt.

Wir haben nur zu wünschen, daß der, für den die Vollmacht ausgestellt
werden soll, den Geschäften erhalten bleibt, bis der Zweck der Vollmacht er¬
^ reicht ist.




Ungeschichtliche Heschichten.

Wie die Naturwissenschaften, so hat auch die Geschichtschreibung in den
letzten Jahrzehnten ungewöhnlich große Fortschritte gemacht. Die Methode
ist vielfach eine andere geworden, man geht von richtigeren Grundsätzen aus,
und Zufall oder Forschung haben neue Quellen geöffnet. In Folge davon
ist ein nicht geringer Theil dessen, was die wissenschaftlichen Historiker noch
vor fünfzig Jahren unbesehen sür ausgemachte Thatsache hielten, und was die
Schule und die populäre Literatur, jenen vertrauend, als Thatsache in's Volk
brachten, in dessen Kreisen es sich dann einwurzelte und fortpflanzte, bei ge¬
nauerer Betrachtung als unbegründet erkannt und daraufhin aus den Ge¬
schichtsbüchern gestrichen oder doch wesentlich modifizirt worden.

Eine große Anzahl von Dingen, Einrichtungen und Ereignissen der Ver¬
gangenheit, die noch in den zwanziger und dreißiger Jahren selbst der gelehrten
Welt vollkommen feststanden und bis in die vierziger Jahre hinein in Gymna¬
sien, sowie in Weltgeschichten und Konversationslexicis für die gebildeten
Schichten der Nation unbefangen vorgetragen wurden, haben sich in nichts
aufgelöst oder wenigstens ein ganz anderes Gesicht bekommen. Für geschicht¬
lich gehaltene Persönlichkeiten sind zu mythischen Helden oder Gottheiten ge¬
worden, andere zu bloßen Repräsentanten kulturhistorischer Perioden, wieder
andere zu absichtlichen Erfindungen, die meist die Urzeit eines Volkes schmücken
oder schänden oder als Beispiele für die Güte einer Philosophie, einer Religion,
einer politischen Doktrin dienen oder auch Gelehrten, die vor einer Lücke standen
und Lücken in ihrer Darstellung für ehrenrührig hielten, aus der Verlegenheit
helfen sollten. In gleicher Weise hat man historische Entwickelungen, Zustände


energisch in der Verachtung aller Scheinnachtheile nach innen und außen.
Wenn man diese Vollmacht dem Bundesrathe gibt, so gibt man sie dem Vor¬
sitzenden desselben, solange dieser Vorsitzende Fürst Bismarck ist. Unter einem
andern Vorsitzenden wird weder dieser Vorsitzende selbst noch der Bundesrath
die Vollmacht gebrauchen, auch wenn sie noch zu Recht besteht. Sie wird
alsdann von selbst erlöschen, ohne daß für die Zurücknahme ein Mund sich rührt.

Wir haben nur zu wünschen, daß der, für den die Vollmacht ausgestellt
werden soll, den Geschäften erhalten bleibt, bis der Zweck der Vollmacht er¬
^ reicht ist.




Ungeschichtliche Heschichten.

Wie die Naturwissenschaften, so hat auch die Geschichtschreibung in den
letzten Jahrzehnten ungewöhnlich große Fortschritte gemacht. Die Methode
ist vielfach eine andere geworden, man geht von richtigeren Grundsätzen aus,
und Zufall oder Forschung haben neue Quellen geöffnet. In Folge davon
ist ein nicht geringer Theil dessen, was die wissenschaftlichen Historiker noch
vor fünfzig Jahren unbesehen sür ausgemachte Thatsache hielten, und was die
Schule und die populäre Literatur, jenen vertrauend, als Thatsache in's Volk
brachten, in dessen Kreisen es sich dann einwurzelte und fortpflanzte, bei ge¬
nauerer Betrachtung als unbegründet erkannt und daraufhin aus den Ge¬
schichtsbüchern gestrichen oder doch wesentlich modifizirt worden.

Eine große Anzahl von Dingen, Einrichtungen und Ereignissen der Ver¬
gangenheit, die noch in den zwanziger und dreißiger Jahren selbst der gelehrten
Welt vollkommen feststanden und bis in die vierziger Jahre hinein in Gymna¬
sien, sowie in Weltgeschichten und Konversationslexicis für die gebildeten
Schichten der Nation unbefangen vorgetragen wurden, haben sich in nichts
aufgelöst oder wenigstens ein ganz anderes Gesicht bekommen. Für geschicht¬
lich gehaltene Persönlichkeiten sind zu mythischen Helden oder Gottheiten ge¬
worden, andere zu bloßen Repräsentanten kulturhistorischer Perioden, wieder
andere zu absichtlichen Erfindungen, die meist die Urzeit eines Volkes schmücken
oder schänden oder als Beispiele für die Güte einer Philosophie, einer Religion,
einer politischen Doktrin dienen oder auch Gelehrten, die vor einer Lücke standen
und Lücken in ihrer Darstellung für ehrenrührig hielten, aus der Verlegenheit
helfen sollten. In gleicher Weise hat man historische Entwickelungen, Zustände


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/72>, abgerufen am 01.05.2024.