Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite

Und Ereignisse, die mit Mythen oder Hypothesen durchsetzt waren, dieser Zu¬
sätze entkleidet und in ihrer eigentlichen Natur erkannt. Die meisten von den
Anekdoten und den wohlgesetzten Reden, sowie viele von den Aussprüchen, welche
die alte Geschichtschreibung an den Namen dieses oder jenes großen Mannes
knüpfte und mit Vorliebe nacherzählte, sind von der heutigen für apokryph
erklärt worden. Tyrannen haben sich in ganz achtbare und in ihrer Art wohl¬
gesinnte Leute, dagegen vielgerühmte Fürsten, Staatsmänner oder Parteiführer
sich in Mittelmäßigkeiten, in beschränkte Köpfe, in ordinäre Egoisten verwandelt.
Von gewaltigen Schlachten, von ganzen Kriegen sogar hat sich gezeigt, daß sie,
so genan man über sie bis in's Einzelne unterrichtet zu sein meinte, niemals
stattgefunden haben.

Trotzdem wird in ziemlich weiten Kreisen selbst protestantischer Länder
nicht Weniges der Art noch für baare Münze gehalten und in katholischen
sogar in höheren Schulen als solche ausgegeben und arglos angenommen, und
so ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn man diesen Uebelstand einmal zur
Sprache bringt. Die Gefahr, manchem unserer Leser nichts Neues zu sagen,
darf unseres Erachtens nicht davon abschrecken. Denn das Publikum besteht
allenthalben nur zu einem kleinen Bruchtheile aus Gelehrten, und selbst diesen
werden, soweit ihr Fach nicht die Bearbeitung der Geschichte ist, einige von
unseren Mittheilungen willkommen sein.

Selbstverständlich können die nachfolgenden Notizen die Masse von natür¬
lich gewachsenen oder absichtlichen Fabeleien, die sich mit dem echten Stoffe
der Geschichte vermischt und verschmolzen haben und für Viele noch heute an
ihr haften, nicht erschöpfen. Unsere Aufgabe kann nur die sein, auf das Vor¬
handensein derselben aufmerksam zu machen, zur Vorsicht zu mahnen wo etwas
irgendwie zweifelhaft erscheint. Zweifelhaft erscheinen sollte aber alles recht
Großartige, Glänzende, Abenteuerliche und Außerordentliche, desgleichen alles
Pointirte und. Plötzliche. Das Geschichtsbild verliert durch solche Vorsicht
allerdings manchen poetischen Zug, manche erhebende und rührende Stelle,
allerlei Erbauliches, Biederes, Witziges und Ueberraschendes, aber es wird
wahrer, und das ist die Hauptsache. Die Fiktion braucht nicht zu sterben,
wenn sie dahin verwiesen wird, wohin sie gehört, in den Bereich, aus dem der
Dichter seine Stoffe nimmt.

Zwei Grundirrthümer besonders haben die frühere Auffassung der Ent¬
wickelung der Menschheit stark beeinflußt und wirken hie und da noch fort.
Der eine bestand darin, daß man die Menschen und Ereignisse, durch die
jene Entwickelung sich vollzogen hat, nicht, wie es jetzt geschieht, aus
ihrer Zeit heraus, sondern nach der Moral der unseren oder gar nach seiner
besonderen politischen oder religiösen Ansicht beurtheilte und darstellte. Der


Und Ereignisse, die mit Mythen oder Hypothesen durchsetzt waren, dieser Zu¬
sätze entkleidet und in ihrer eigentlichen Natur erkannt. Die meisten von den
Anekdoten und den wohlgesetzten Reden, sowie viele von den Aussprüchen, welche
die alte Geschichtschreibung an den Namen dieses oder jenes großen Mannes
knüpfte und mit Vorliebe nacherzählte, sind von der heutigen für apokryph
erklärt worden. Tyrannen haben sich in ganz achtbare und in ihrer Art wohl¬
gesinnte Leute, dagegen vielgerühmte Fürsten, Staatsmänner oder Parteiführer
sich in Mittelmäßigkeiten, in beschränkte Köpfe, in ordinäre Egoisten verwandelt.
Von gewaltigen Schlachten, von ganzen Kriegen sogar hat sich gezeigt, daß sie,
so genan man über sie bis in's Einzelne unterrichtet zu sein meinte, niemals
stattgefunden haben.

Trotzdem wird in ziemlich weiten Kreisen selbst protestantischer Länder
nicht Weniges der Art noch für baare Münze gehalten und in katholischen
sogar in höheren Schulen als solche ausgegeben und arglos angenommen, und
so ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn man diesen Uebelstand einmal zur
Sprache bringt. Die Gefahr, manchem unserer Leser nichts Neues zu sagen,
darf unseres Erachtens nicht davon abschrecken. Denn das Publikum besteht
allenthalben nur zu einem kleinen Bruchtheile aus Gelehrten, und selbst diesen
werden, soweit ihr Fach nicht die Bearbeitung der Geschichte ist, einige von
unseren Mittheilungen willkommen sein.

Selbstverständlich können die nachfolgenden Notizen die Masse von natür¬
lich gewachsenen oder absichtlichen Fabeleien, die sich mit dem echten Stoffe
der Geschichte vermischt und verschmolzen haben und für Viele noch heute an
ihr haften, nicht erschöpfen. Unsere Aufgabe kann nur die sein, auf das Vor¬
handensein derselben aufmerksam zu machen, zur Vorsicht zu mahnen wo etwas
irgendwie zweifelhaft erscheint. Zweifelhaft erscheinen sollte aber alles recht
Großartige, Glänzende, Abenteuerliche und Außerordentliche, desgleichen alles
Pointirte und. Plötzliche. Das Geschichtsbild verliert durch solche Vorsicht
allerdings manchen poetischen Zug, manche erhebende und rührende Stelle,
allerlei Erbauliches, Biederes, Witziges und Ueberraschendes, aber es wird
wahrer, und das ist die Hauptsache. Die Fiktion braucht nicht zu sterben,
wenn sie dahin verwiesen wird, wohin sie gehört, in den Bereich, aus dem der
Dichter seine Stoffe nimmt.

Zwei Grundirrthümer besonders haben die frühere Auffassung der Ent¬
wickelung der Menschheit stark beeinflußt und wirken hie und da noch fort.
Der eine bestand darin, daß man die Menschen und Ereignisse, durch die
jene Entwickelung sich vollzogen hat, nicht, wie es jetzt geschieht, aus
ihrer Zeit heraus, sondern nach der Moral der unseren oder gar nach seiner
besonderen politischen oder religiösen Ansicht beurtheilte und darstellte. Der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/142028"/>
          <p xml:id="ID_225" prev="#ID_224"> Und Ereignisse, die mit Mythen oder Hypothesen durchsetzt waren, dieser Zu¬<lb/>
sätze entkleidet und in ihrer eigentlichen Natur erkannt. Die meisten von den<lb/>
Anekdoten und den wohlgesetzten Reden, sowie viele von den Aussprüchen, welche<lb/>
die alte Geschichtschreibung an den Namen dieses oder jenes großen Mannes<lb/>
knüpfte und mit Vorliebe nacherzählte, sind von der heutigen für apokryph<lb/>
erklärt worden. Tyrannen haben sich in ganz achtbare und in ihrer Art wohl¬<lb/>
gesinnte Leute, dagegen vielgerühmte Fürsten, Staatsmänner oder Parteiführer<lb/>
sich in Mittelmäßigkeiten, in beschränkte Köpfe, in ordinäre Egoisten verwandelt.<lb/>
Von gewaltigen Schlachten, von ganzen Kriegen sogar hat sich gezeigt, daß sie,<lb/>
so genan man über sie bis in's Einzelne unterrichtet zu sein meinte, niemals<lb/>
stattgefunden haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_226"> Trotzdem wird in ziemlich weiten Kreisen selbst protestantischer Länder<lb/>
nicht Weniges der Art noch für baare Münze gehalten und in katholischen<lb/>
sogar in höheren Schulen als solche ausgegeben und arglos angenommen, und<lb/>
so ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn man diesen Uebelstand einmal zur<lb/>
Sprache bringt. Die Gefahr, manchem unserer Leser nichts Neues zu sagen,<lb/>
darf unseres Erachtens nicht davon abschrecken. Denn das Publikum besteht<lb/>
allenthalben nur zu einem kleinen Bruchtheile aus Gelehrten, und selbst diesen<lb/>
werden, soweit ihr Fach nicht die Bearbeitung der Geschichte ist, einige von<lb/>
unseren Mittheilungen willkommen sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_227"> Selbstverständlich können die nachfolgenden Notizen die Masse von natür¬<lb/>
lich gewachsenen oder absichtlichen Fabeleien, die sich mit dem echten Stoffe<lb/>
der Geschichte vermischt und verschmolzen haben und für Viele noch heute an<lb/>
ihr haften, nicht erschöpfen. Unsere Aufgabe kann nur die sein, auf das Vor¬<lb/>
handensein derselben aufmerksam zu machen, zur Vorsicht zu mahnen wo etwas<lb/>
irgendwie zweifelhaft erscheint. Zweifelhaft erscheinen sollte aber alles recht<lb/>
Großartige, Glänzende, Abenteuerliche und Außerordentliche, desgleichen alles<lb/>
Pointirte und. Plötzliche. Das Geschichtsbild verliert durch solche Vorsicht<lb/>
allerdings manchen poetischen Zug, manche erhebende und rührende Stelle,<lb/>
allerlei Erbauliches, Biederes, Witziges und Ueberraschendes, aber es wird<lb/>
wahrer, und das ist die Hauptsache. Die Fiktion braucht nicht zu sterben,<lb/>
wenn sie dahin verwiesen wird, wohin sie gehört, in den Bereich, aus dem der<lb/>
Dichter seine Stoffe nimmt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_228" next="#ID_229"> Zwei Grundirrthümer besonders haben die frühere Auffassung der Ent¬<lb/>
wickelung der Menschheit stark beeinflußt und wirken hie und da noch fort.<lb/>
Der eine bestand darin, daß man die Menschen und Ereignisse, durch die<lb/>
jene Entwickelung sich vollzogen hat, nicht, wie es jetzt geschieht, aus<lb/>
ihrer Zeit heraus, sondern nach der Moral der unseren oder gar nach seiner<lb/>
besonderen politischen oder religiösen Ansicht beurtheilte und darstellte. Der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] Und Ereignisse, die mit Mythen oder Hypothesen durchsetzt waren, dieser Zu¬ sätze entkleidet und in ihrer eigentlichen Natur erkannt. Die meisten von den Anekdoten und den wohlgesetzten Reden, sowie viele von den Aussprüchen, welche die alte Geschichtschreibung an den Namen dieses oder jenes großen Mannes knüpfte und mit Vorliebe nacherzählte, sind von der heutigen für apokryph erklärt worden. Tyrannen haben sich in ganz achtbare und in ihrer Art wohl¬ gesinnte Leute, dagegen vielgerühmte Fürsten, Staatsmänner oder Parteiführer sich in Mittelmäßigkeiten, in beschränkte Köpfe, in ordinäre Egoisten verwandelt. Von gewaltigen Schlachten, von ganzen Kriegen sogar hat sich gezeigt, daß sie, so genan man über sie bis in's Einzelne unterrichtet zu sein meinte, niemals stattgefunden haben. Trotzdem wird in ziemlich weiten Kreisen selbst protestantischer Länder nicht Weniges der Art noch für baare Münze gehalten und in katholischen sogar in höheren Schulen als solche ausgegeben und arglos angenommen, und so ist es vielleicht nicht überflüssig, wenn man diesen Uebelstand einmal zur Sprache bringt. Die Gefahr, manchem unserer Leser nichts Neues zu sagen, darf unseres Erachtens nicht davon abschrecken. Denn das Publikum besteht allenthalben nur zu einem kleinen Bruchtheile aus Gelehrten, und selbst diesen werden, soweit ihr Fach nicht die Bearbeitung der Geschichte ist, einige von unseren Mittheilungen willkommen sein. Selbstverständlich können die nachfolgenden Notizen die Masse von natür¬ lich gewachsenen oder absichtlichen Fabeleien, die sich mit dem echten Stoffe der Geschichte vermischt und verschmolzen haben und für Viele noch heute an ihr haften, nicht erschöpfen. Unsere Aufgabe kann nur die sein, auf das Vor¬ handensein derselben aufmerksam zu machen, zur Vorsicht zu mahnen wo etwas irgendwie zweifelhaft erscheint. Zweifelhaft erscheinen sollte aber alles recht Großartige, Glänzende, Abenteuerliche und Außerordentliche, desgleichen alles Pointirte und. Plötzliche. Das Geschichtsbild verliert durch solche Vorsicht allerdings manchen poetischen Zug, manche erhebende und rührende Stelle, allerlei Erbauliches, Biederes, Witziges und Ueberraschendes, aber es wird wahrer, und das ist die Hauptsache. Die Fiktion braucht nicht zu sterben, wenn sie dahin verwiesen wird, wohin sie gehört, in den Bereich, aus dem der Dichter seine Stoffe nimmt. Zwei Grundirrthümer besonders haben die frühere Auffassung der Ent¬ wickelung der Menschheit stark beeinflußt und wirken hie und da noch fort. Der eine bestand darin, daß man die Menschen und Ereignisse, durch die jene Entwickelung sich vollzogen hat, nicht, wie es jetzt geschieht, aus ihrer Zeit heraus, sondern nach der Moral der unseren oder gar nach seiner besonderen politischen oder religiösen Ansicht beurtheilte und darstellte. Der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/73
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/73>, abgerufen am 22.05.2024.