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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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indem sie alle Mittel anwenden, um den Gegner zu ermüden und durch Winkel¬
züge im Vergleichswege das zu erreichen, was sie im Wege Rechtens nicht er¬
>K langen können."




Die

geschichtliche Entwicklung der orientalischen Frage.")
v Georg Winter. on (Schluß.)

In der Mitte zwischen den stets zum offenen Aufruhr geneigten, z. Th>
panslawistischen Phantomen ergebenen christlichen Bevölkerungen und dem fort¬
währenden Drängen der europäischen Mächte nach Reformen fristet die Türkei
auf europäischem Boden nur ein kümmerliches Dasein, und wer wollte sagen,
wie lange ihr auch nur dies noch möglich sein wird? Wir wollen hier nur
an die endlosen Verwicklungen erinnern, welche durch die sogenannte ägyptische
Frage zur Zeit des Vicekönigs Mehemed Ali der Pforte erwuchsen (1839--41).*"°)

Was dem Sultan Mahmud in Bosnien in eben jener Epoche mißlungen
war, das gelang dein Vicekönig von Aegypten in seinem Lande: er wußte sich
von der Herrschaft seiner Truppen zu emancipiren und dieselben nach europäischen:
Muster umzugestalten; zugleich hob er das materielle Wohlsein durch zwar des¬
potische, aber dem Charakter des Landes entsprechende administrative und in¬
dustrielle Maßregeln. Als er aber, auf die Macht, die er so erlangt, gestützt,
seine Kräfte gegen den Sultan, seineu Oberherrn, selbst zu wenden sich anschickte,
gab dies sofort wieder den Anlaß zu einer europäischen Verwicklung; es gab
selbst einen Moment, in welchem ein allgemeiner Krieg aus dieser Frage zu
entstehen drohte, indem Frankreich und anfangs auch England für Mehemed
Ali, Rußland und Oesterreich aber für die Pforte Partei nahmen. Erst als




Serbien und die Türkei im 19. Jahrhundert. Von Leopold von
Ranke. Leipzig, Duncker K Humblot, 1879.
Vergl. darüber die lichtvollen Ausführungen Rankes im dritten Abschnitte seines
neuen Werkes, S. SS3 fg. Man wird hier das Geschick des großen Historikers, die Ereig¬
nisse aus ihrer Isolirtheit herauszuheben und sie im Zusammenhange der Weltbegebenheiten
erscheinen zu lassen, um so mehr bewundern, als seine Darstellung ausschließlich auf den
diplomatischen Verhandlungen zwischen den europäischen Mächten beruht, die, zunächst immer
auf dem Interesse der Mächte selbst basirend, ein recht sprödes und trockenes historisches
Material repräsentiren.

indem sie alle Mittel anwenden, um den Gegner zu ermüden und durch Winkel¬
züge im Vergleichswege das zu erreichen, was sie im Wege Rechtens nicht er¬
>K langen können."




Die

geschichtliche Entwicklung der orientalischen Frage.")
v Georg Winter. on (Schluß.)

In der Mitte zwischen den stets zum offenen Aufruhr geneigten, z. Th>
panslawistischen Phantomen ergebenen christlichen Bevölkerungen und dem fort¬
währenden Drängen der europäischen Mächte nach Reformen fristet die Türkei
auf europäischem Boden nur ein kümmerliches Dasein, und wer wollte sagen,
wie lange ihr auch nur dies noch möglich sein wird? Wir wollen hier nur
an die endlosen Verwicklungen erinnern, welche durch die sogenannte ägyptische
Frage zur Zeit des Vicekönigs Mehemed Ali der Pforte erwuchsen (1839—41).*"°)

Was dem Sultan Mahmud in Bosnien in eben jener Epoche mißlungen
war, das gelang dein Vicekönig von Aegypten in seinem Lande: er wußte sich
von der Herrschaft seiner Truppen zu emancipiren und dieselben nach europäischen:
Muster umzugestalten; zugleich hob er das materielle Wohlsein durch zwar des¬
potische, aber dem Charakter des Landes entsprechende administrative und in¬
dustrielle Maßregeln. Als er aber, auf die Macht, die er so erlangt, gestützt,
seine Kräfte gegen den Sultan, seineu Oberherrn, selbst zu wenden sich anschickte,
gab dies sofort wieder den Anlaß zu einer europäischen Verwicklung; es gab
selbst einen Moment, in welchem ein allgemeiner Krieg aus dieser Frage zu
entstehen drohte, indem Frankreich und anfangs auch England für Mehemed
Ali, Rußland und Oesterreich aber für die Pforte Partei nahmen. Erst als




Serbien und die Türkei im 19. Jahrhundert. Von Leopold von
Ranke. Leipzig, Duncker K Humblot, 1879.
Vergl. darüber die lichtvollen Ausführungen Rankes im dritten Abschnitte seines
neuen Werkes, S. SS3 fg. Man wird hier das Geschick des großen Historikers, die Ereig¬
nisse aus ihrer Isolirtheit herauszuheben und sie im Zusammenhange der Weltbegebenheiten
erscheinen zu lassen, um so mehr bewundern, als seine Darstellung ausschließlich auf den
diplomatischen Verhandlungen zwischen den europäischen Mächten beruht, die, zunächst immer
auf dem Interesse der Mächte selbst basirend, ein recht sprödes und trockenes historisches
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[0196] indem sie alle Mittel anwenden, um den Gegner zu ermüden und durch Winkel¬ züge im Vergleichswege das zu erreichen, was sie im Wege Rechtens nicht er¬ >K langen können." Die geschichtliche Entwicklung der orientalischen Frage.") v Georg Winter. on (Schluß.) In der Mitte zwischen den stets zum offenen Aufruhr geneigten, z. Th> panslawistischen Phantomen ergebenen christlichen Bevölkerungen und dem fort¬ währenden Drängen der europäischen Mächte nach Reformen fristet die Türkei auf europäischem Boden nur ein kümmerliches Dasein, und wer wollte sagen, wie lange ihr auch nur dies noch möglich sein wird? Wir wollen hier nur an die endlosen Verwicklungen erinnern, welche durch die sogenannte ägyptische Frage zur Zeit des Vicekönigs Mehemed Ali der Pforte erwuchsen (1839—41).*"°) Was dem Sultan Mahmud in Bosnien in eben jener Epoche mißlungen war, das gelang dein Vicekönig von Aegypten in seinem Lande: er wußte sich von der Herrschaft seiner Truppen zu emancipiren und dieselben nach europäischen: Muster umzugestalten; zugleich hob er das materielle Wohlsein durch zwar des¬ potische, aber dem Charakter des Landes entsprechende administrative und in¬ dustrielle Maßregeln. Als er aber, auf die Macht, die er so erlangt, gestützt, seine Kräfte gegen den Sultan, seineu Oberherrn, selbst zu wenden sich anschickte, gab dies sofort wieder den Anlaß zu einer europäischen Verwicklung; es gab selbst einen Moment, in welchem ein allgemeiner Krieg aus dieser Frage zu entstehen drohte, indem Frankreich und anfangs auch England für Mehemed Ali, Rußland und Oesterreich aber für die Pforte Partei nahmen. Erst als Serbien und die Türkei im 19. Jahrhundert. Von Leopold von Ranke. Leipzig, Duncker K Humblot, 1879. Vergl. darüber die lichtvollen Ausführungen Rankes im dritten Abschnitte seines neuen Werkes, S. SS3 fg. Man wird hier das Geschick des großen Historikers, die Ereig¬ nisse aus ihrer Isolirtheit herauszuheben und sie im Zusammenhange der Weltbegebenheiten erscheinen zu lassen, um so mehr bewundern, als seine Darstellung ausschließlich auf den diplomatischen Verhandlungen zwischen den europäischen Mächten beruht, die, zunächst immer auf dem Interesse der Mächte selbst basirend, ein recht sprödes und trockenes historisches Material repräsentiren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/196>, abgerufen am 06.05.2024.