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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Unsere Grenze im Nordosten.
2.

Wir haben im vorigen Artikel gesehen, daß der Vertrag von Kalisch, nach
welchem Rußland an Preußen ein Gebiet abtreten sollte, das die Provinz Alt¬
preußen in jeder militärischen und geographischen Beziehung mit Schlesien ver¬
bände, vom Kaiser Alexander nicht erfüllt wurde. Die 1815 gezogene Grenze
verbindet die genannten Theile des preußischen Staates nicht direct oder doch
nur an einer schmalen Stelle mit einander, nur der Netze-District hängt mit
Schlesien zusammen; sie bildet nicht eine gerade Linie Russisch-Polen gegenüber,
sondern eine tiefe Einbuchtung in Preußen hinein, sodaß von Peisern, dem west¬
lichsten Punkte des russischen Reichs aus, die Provinzen Preußen und Schlesien
völlig vom Hauptkörper abflügeln und somit von dorther leicht abgeschnitten
werden können.

"Es lag," wie Niemann*) bemerkt, "nahe, im Vertrage von Kalisch als das
für Preußen bestimmte Gebiet den Besitzstand von 1793 (das ehemalige Süd¬
preußen) anzugeben, und es bleibt immer ein schwerer Vorwurf für Hardenberg,
daß er die öfters (zunächst in Reichenbach und Teplitz) wiederkehrende Gelegen¬
heit versäumte, diese oder eine ähnliche Bestimmung irgendwo einzuschieben. Der
Umstand aber, daß in dem Kalischer Vertrage der Besitzstand von 1793 nicht
aufgenommen ist, läßt darauf schließen, daß die Paeiscenten denselben nicht in
Absicht hatten; dagegen steht unzweifelhaft fest, daß preußischerseits als die ge¬
ringste Gebietserweiterung die Linie Soltau - Thorn - Wartha betrachtet wurde;
denn diese Linie wurde voll Stein und den preußischen Staatsmännern als das
Minimum gefordert und als solches hartnäckig vertheidigt. Wenn Kaiser Ale¬
xander uns dessen ungeachtet die Grenze Thorn-Kalisch aufdrang, so entsprach
die That den Worten nicht, in welchen er so oft seine Vertragstreue gegen
Preußen betheuerte."



") Raumers Historisches Taschenbuch, Jahrgang 1S79 S. 41.
Grenzboten I. 1S80. 28
Unsere Grenze im Nordosten.
2.

Wir haben im vorigen Artikel gesehen, daß der Vertrag von Kalisch, nach
welchem Rußland an Preußen ein Gebiet abtreten sollte, das die Provinz Alt¬
preußen in jeder militärischen und geographischen Beziehung mit Schlesien ver¬
bände, vom Kaiser Alexander nicht erfüllt wurde. Die 1815 gezogene Grenze
verbindet die genannten Theile des preußischen Staates nicht direct oder doch
nur an einer schmalen Stelle mit einander, nur der Netze-District hängt mit
Schlesien zusammen; sie bildet nicht eine gerade Linie Russisch-Polen gegenüber,
sondern eine tiefe Einbuchtung in Preußen hinein, sodaß von Peisern, dem west¬
lichsten Punkte des russischen Reichs aus, die Provinzen Preußen und Schlesien
völlig vom Hauptkörper abflügeln und somit von dorther leicht abgeschnitten
werden können.

„Es lag," wie Niemann*) bemerkt, „nahe, im Vertrage von Kalisch als das
für Preußen bestimmte Gebiet den Besitzstand von 1793 (das ehemalige Süd¬
preußen) anzugeben, und es bleibt immer ein schwerer Vorwurf für Hardenberg,
daß er die öfters (zunächst in Reichenbach und Teplitz) wiederkehrende Gelegen¬
heit versäumte, diese oder eine ähnliche Bestimmung irgendwo einzuschieben. Der
Umstand aber, daß in dem Kalischer Vertrage der Besitzstand von 1793 nicht
aufgenommen ist, läßt darauf schließen, daß die Paeiscenten denselben nicht in
Absicht hatten; dagegen steht unzweifelhaft fest, daß preußischerseits als die ge¬
ringste Gebietserweiterung die Linie Soltau - Thorn - Wartha betrachtet wurde;
denn diese Linie wurde voll Stein und den preußischen Staatsmännern als das
Minimum gefordert und als solches hartnäckig vertheidigt. Wenn Kaiser Ale¬
xander uns dessen ungeachtet die Grenze Thorn-Kalisch aufdrang, so entsprach
die That den Worten nicht, in welchen er so oft seine Vertragstreue gegen
Preußen betheuerte."



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[0225] Unsere Grenze im Nordosten. 2. Wir haben im vorigen Artikel gesehen, daß der Vertrag von Kalisch, nach welchem Rußland an Preußen ein Gebiet abtreten sollte, das die Provinz Alt¬ preußen in jeder militärischen und geographischen Beziehung mit Schlesien ver¬ bände, vom Kaiser Alexander nicht erfüllt wurde. Die 1815 gezogene Grenze verbindet die genannten Theile des preußischen Staates nicht direct oder doch nur an einer schmalen Stelle mit einander, nur der Netze-District hängt mit Schlesien zusammen; sie bildet nicht eine gerade Linie Russisch-Polen gegenüber, sondern eine tiefe Einbuchtung in Preußen hinein, sodaß von Peisern, dem west¬ lichsten Punkte des russischen Reichs aus, die Provinzen Preußen und Schlesien völlig vom Hauptkörper abflügeln und somit von dorther leicht abgeschnitten werden können. „Es lag," wie Niemann*) bemerkt, „nahe, im Vertrage von Kalisch als das für Preußen bestimmte Gebiet den Besitzstand von 1793 (das ehemalige Süd¬ preußen) anzugeben, und es bleibt immer ein schwerer Vorwurf für Hardenberg, daß er die öfters (zunächst in Reichenbach und Teplitz) wiederkehrende Gelegen¬ heit versäumte, diese oder eine ähnliche Bestimmung irgendwo einzuschieben. Der Umstand aber, daß in dem Kalischer Vertrage der Besitzstand von 1793 nicht aufgenommen ist, läßt darauf schließen, daß die Paeiscenten denselben nicht in Absicht hatten; dagegen steht unzweifelhaft fest, daß preußischerseits als die ge¬ ringste Gebietserweiterung die Linie Soltau - Thorn - Wartha betrachtet wurde; denn diese Linie wurde voll Stein und den preußischen Staatsmännern als das Minimum gefordert und als solches hartnäckig vertheidigt. Wenn Kaiser Ale¬ xander uns dessen ungeachtet die Grenze Thorn-Kalisch aufdrang, so entsprach die That den Worten nicht, in welchen er so oft seine Vertragstreue gegen Preußen betheuerte." ") Raumers Historisches Taschenbuch, Jahrgang 1S79 S. 41. Grenzboten I. 1S80. 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/225>, abgerufen am 06.05.2024.