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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Die religiöse Anlage des Menschen.

Die Frage nach dein Wesen der Religion und der Anlage des Menschen
zu derselben ist uralt; zu ihrer Beantwortung aber ist ein sehr verschiedenes
Verfahren möglich. Die christlichen Theologen sind meist, je nachdem sie mehr
kirchlich-gläubig oder mehr philosophisch angelegt waren, entweder von dem be¬
grenzten Gebiete der biblischen und kirchlichen Vorstellungen als dem positiv
Gegebenen ausgegangen, oder sie haben durch psychologische Zergliederung
Ursprung und Wesen der Religion zu entdecken, durch Speculatives Denken den
Gegenstand derselben zu erfassen und nachzuweisen gesucht.

Die neuere Zeit will sich aber doch mit den alten Wegen nicht zufrieden
geben. An alles bloß Positive legt sie theils eine berechtigte Kritik, theils setzt
sie ihm einen unbegrenzten Skepticismus entgegen; gegenüber aller Speculation
aber ist sie nur allzurasch mit dem bekannten Goethe-Worte von der "dürren
Haide" bei der Hand. Es kennzeichnet sie eben, wie es Pierson in seinem
Buche "Richtung und Leben" ausdrückt, der Hunger nach Realitäten; auf jedem
Gebiete des Wissens, auch auf dem innerlichsten, verlangt sie nach einem reichen
Erfcchrungs- und Beobachtungsmaterial. So ist denn auch auf dem Gebiete
der allgemeinen Religionsgeschichte ein früher unbekanntes reges Leben erwacht;
die Sprach- und Mythenvergleichung hat hier ihre Schlüsse gebaut; die Berichte
der Reisenden haben neue Wahrnehmungen auch auf religiösem Gebiete ans
Licht gebracht, die Völkerkunde hat sie von ihrem neutralen Standpunkte aus
registrirt, Freund und Feind christlicher Weltanschauung haben begonnen, sich
gleichfalls mit ihnen auseinanderzusetzen.

Da war es denn sicherlich ein glücklicher, zeitgemäßer Gedanke, daß die
altberühmte Teylersche theologische Gesellschaft in Haarlem im Jahre 1874 unter
ihre Preisfragen auch die mit aufnahm: Was lehrt die Völkerkunde auf ihrem
gegenwärtigen Standpunkte über die Anlage des Menschen zur Religion?

Von den zwei eingegangenen Lösungsversuchen hat derjenige Julius Hcippels
die ziemlich hohen Ansprüche der Gesellschaft befriedigt und den Preis davon¬
getragen. 1877 ist die Arbeit im Druck erschienen*), und wer sich überhaupt
für Religionswissenschaft interessirt, wird nicht allzuoft von einem Buche so von



*) Die Anlage des Menschen zur Religion, vom gegenwärtigen Standpunkte der
Völkerkunde aus betrachtet und untersucht von Julius Happel, Prediger der reformirten
Gemeinde zu Bützow, Von der Teylersche" Gesellschaft gekrönte Preisschrift. Haarlem,
de Erven F. Bohn, Z877.
Die religiöse Anlage des Menschen.

Die Frage nach dein Wesen der Religion und der Anlage des Menschen
zu derselben ist uralt; zu ihrer Beantwortung aber ist ein sehr verschiedenes
Verfahren möglich. Die christlichen Theologen sind meist, je nachdem sie mehr
kirchlich-gläubig oder mehr philosophisch angelegt waren, entweder von dem be¬
grenzten Gebiete der biblischen und kirchlichen Vorstellungen als dem positiv
Gegebenen ausgegangen, oder sie haben durch psychologische Zergliederung
Ursprung und Wesen der Religion zu entdecken, durch Speculatives Denken den
Gegenstand derselben zu erfassen und nachzuweisen gesucht.

Die neuere Zeit will sich aber doch mit den alten Wegen nicht zufrieden
geben. An alles bloß Positive legt sie theils eine berechtigte Kritik, theils setzt
sie ihm einen unbegrenzten Skepticismus entgegen; gegenüber aller Speculation
aber ist sie nur allzurasch mit dem bekannten Goethe-Worte von der „dürren
Haide" bei der Hand. Es kennzeichnet sie eben, wie es Pierson in seinem
Buche „Richtung und Leben" ausdrückt, der Hunger nach Realitäten; auf jedem
Gebiete des Wissens, auch auf dem innerlichsten, verlangt sie nach einem reichen
Erfcchrungs- und Beobachtungsmaterial. So ist denn auch auf dem Gebiete
der allgemeinen Religionsgeschichte ein früher unbekanntes reges Leben erwacht;
die Sprach- und Mythenvergleichung hat hier ihre Schlüsse gebaut; die Berichte
der Reisenden haben neue Wahrnehmungen auch auf religiösem Gebiete ans
Licht gebracht, die Völkerkunde hat sie von ihrem neutralen Standpunkte aus
registrirt, Freund und Feind christlicher Weltanschauung haben begonnen, sich
gleichfalls mit ihnen auseinanderzusetzen.

Da war es denn sicherlich ein glücklicher, zeitgemäßer Gedanke, daß die
altberühmte Teylersche theologische Gesellschaft in Haarlem im Jahre 1874 unter
ihre Preisfragen auch die mit aufnahm: Was lehrt die Völkerkunde auf ihrem
gegenwärtigen Standpunkte über die Anlage des Menschen zur Religion?

Von den zwei eingegangenen Lösungsversuchen hat derjenige Julius Hcippels
die ziemlich hohen Ansprüche der Gesellschaft befriedigt und den Preis davon¬
getragen. 1877 ist die Arbeit im Druck erschienen*), und wer sich überhaupt
für Religionswissenschaft interessirt, wird nicht allzuoft von einem Buche so von



*) Die Anlage des Menschen zur Religion, vom gegenwärtigen Standpunkte der
Völkerkunde aus betrachtet und untersucht von Julius Happel, Prediger der reformirten
Gemeinde zu Bützow, Von der Teylersche» Gesellschaft gekrönte Preisschrift. Haarlem,
de Erven F. Bohn, Z877.
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[0234] Die religiöse Anlage des Menschen. Die Frage nach dein Wesen der Religion und der Anlage des Menschen zu derselben ist uralt; zu ihrer Beantwortung aber ist ein sehr verschiedenes Verfahren möglich. Die christlichen Theologen sind meist, je nachdem sie mehr kirchlich-gläubig oder mehr philosophisch angelegt waren, entweder von dem be¬ grenzten Gebiete der biblischen und kirchlichen Vorstellungen als dem positiv Gegebenen ausgegangen, oder sie haben durch psychologische Zergliederung Ursprung und Wesen der Religion zu entdecken, durch Speculatives Denken den Gegenstand derselben zu erfassen und nachzuweisen gesucht. Die neuere Zeit will sich aber doch mit den alten Wegen nicht zufrieden geben. An alles bloß Positive legt sie theils eine berechtigte Kritik, theils setzt sie ihm einen unbegrenzten Skepticismus entgegen; gegenüber aller Speculation aber ist sie nur allzurasch mit dem bekannten Goethe-Worte von der „dürren Haide" bei der Hand. Es kennzeichnet sie eben, wie es Pierson in seinem Buche „Richtung und Leben" ausdrückt, der Hunger nach Realitäten; auf jedem Gebiete des Wissens, auch auf dem innerlichsten, verlangt sie nach einem reichen Erfcchrungs- und Beobachtungsmaterial. So ist denn auch auf dem Gebiete der allgemeinen Religionsgeschichte ein früher unbekanntes reges Leben erwacht; die Sprach- und Mythenvergleichung hat hier ihre Schlüsse gebaut; die Berichte der Reisenden haben neue Wahrnehmungen auch auf religiösem Gebiete ans Licht gebracht, die Völkerkunde hat sie von ihrem neutralen Standpunkte aus registrirt, Freund und Feind christlicher Weltanschauung haben begonnen, sich gleichfalls mit ihnen auseinanderzusetzen. Da war es denn sicherlich ein glücklicher, zeitgemäßer Gedanke, daß die altberühmte Teylersche theologische Gesellschaft in Haarlem im Jahre 1874 unter ihre Preisfragen auch die mit aufnahm: Was lehrt die Völkerkunde auf ihrem gegenwärtigen Standpunkte über die Anlage des Menschen zur Religion? Von den zwei eingegangenen Lösungsversuchen hat derjenige Julius Hcippels die ziemlich hohen Ansprüche der Gesellschaft befriedigt und den Preis davon¬ getragen. 1877 ist die Arbeit im Druck erschienen*), und wer sich überhaupt für Religionswissenschaft interessirt, wird nicht allzuoft von einem Buche so von *) Die Anlage des Menschen zur Religion, vom gegenwärtigen Standpunkte der Völkerkunde aus betrachtet und untersucht von Julius Happel, Prediger der reformirten Gemeinde zu Bützow, Von der Teylersche» Gesellschaft gekrönte Preisschrift. Haarlem, de Erven F. Bohn, Z877.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/234>, abgerufen am 06.05.2024.