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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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reich, welches von Galizien aus das Weichselland bis Jwangorod strategisch be¬
herrscht. Hauptmann Kirchhammer schreibt in Folge dessen wörtlich:

"Die Freundschaft oder doch die Neutralität Oesterreich-Ungarns ist für
Rußland im Fall eines Krieges gegen Deutschland vom denkbar größten Werthe."
Eine russische Armee, die auf der Hauptoperationslinie Warschau-Posen-Berlin
vorgeht, läßt die Provinz Preußen in der Flanke und im Rücken. Der Führer
derselben muß folglich seine Kräfte theilen und eine zweite Armee zur Operation
gegen die gedachte Provinz mit ihrer starken Vertheidigungslinie am Pregel
verwenden. Dagegen erscheint Preußisch - Schlesien als die Achillesferse des
deutschen Grenzgebietes, wo das reiche Breslau ganz offen daliegt. Hält man
dies mit den großen Schwierigkeiten zusammen, welchen eine Offensive der Russen
auf den nördlichen Operationslinien begegnen würde, so muß man annehmen
daß die russische Armee bemüht sein würde, eine Erweiterung ihrer Basis in
Schlesien zu gewinnen. Dies vermöchte sie aber eben nur, wenn Oesterreich-
Ungarn es gestattete.

In noch höherem Grade aber hat, wie Kirchhammer meint, Deutschland
bei einem Kriege mit Rußland das zwingende Bedürfniß, seine Operationsbasis
nach Schlesien auszudehnen. "Die deutsche Offensive kann in das Innere Ru߬
lands nur dann getragen werden, wenn sie Herrin des Weichsellandes, Russisch-
Polens, ist. Darin, daß Deutschland den Besitz desselben vor allem erstreben
muß, daß die Occupation Russisch-Polens der erste große Act der deutschen
Offensive sein muß, liegt das Geheimniß des hohen Werthes dieser Provinz im
Vertheidigungssysteme des Zarenreiches." Nun besäße die deutsche Operations¬
basis beim Vormarsche nach Russisch-Polen alle ökonomischen und militärischen
Bedingungen, wenn sie durchweg gesicherte Flanken hätte. Die linke Flanke ist
durch die Ostsee gedeckt, die rechte ungedeckt. Von Böhmen und Oesterreich-
Schlesien aus wäre die deutsche Basis auf der rechten Seite und im Rücken
zu bedrohen. "Deutschland hat sonach," wie Kirchhammer behauptet, "in einem
Kriege gegen Rußland militärisch das denkbar größte Interesse, Oesterreich-
Ungarn zum Freunde zu haben, zum mindesten seiner Neutralität sicher zu
sein", -- wie Oesterreich-Ungarn, so fügen wir hinzu, bei einem Kampfe mit
den Russen das denkbar größte Interesse hat, zu wissen, daß Deutschland ihm
als Bundesgenosse zur Seite oder wenigstens ihm nicht feindlich gegenübersteht.

Wir wissen, daß diese Interessengemeinschaft jetzt auf beiden Seiten erkannt
und daß solcher Erkenntniß bei der vorjährigen Anwesenheit des Fürsten
v. Bismarck in Wien in einer Weise Ausdruck gegeben worden ist, die bis auf
R weiteres genügen wird.




Grenzboten I. 1SS0.29

reich, welches von Galizien aus das Weichselland bis Jwangorod strategisch be¬
herrscht. Hauptmann Kirchhammer schreibt in Folge dessen wörtlich:

„Die Freundschaft oder doch die Neutralität Oesterreich-Ungarns ist für
Rußland im Fall eines Krieges gegen Deutschland vom denkbar größten Werthe."
Eine russische Armee, die auf der Hauptoperationslinie Warschau-Posen-Berlin
vorgeht, läßt die Provinz Preußen in der Flanke und im Rücken. Der Führer
derselben muß folglich seine Kräfte theilen und eine zweite Armee zur Operation
gegen die gedachte Provinz mit ihrer starken Vertheidigungslinie am Pregel
verwenden. Dagegen erscheint Preußisch - Schlesien als die Achillesferse des
deutschen Grenzgebietes, wo das reiche Breslau ganz offen daliegt. Hält man
dies mit den großen Schwierigkeiten zusammen, welchen eine Offensive der Russen
auf den nördlichen Operationslinien begegnen würde, so muß man annehmen
daß die russische Armee bemüht sein würde, eine Erweiterung ihrer Basis in
Schlesien zu gewinnen. Dies vermöchte sie aber eben nur, wenn Oesterreich-
Ungarn es gestattete.

In noch höherem Grade aber hat, wie Kirchhammer meint, Deutschland
bei einem Kriege mit Rußland das zwingende Bedürfniß, seine Operationsbasis
nach Schlesien auszudehnen. „Die deutsche Offensive kann in das Innere Ru߬
lands nur dann getragen werden, wenn sie Herrin des Weichsellandes, Russisch-
Polens, ist. Darin, daß Deutschland den Besitz desselben vor allem erstreben
muß, daß die Occupation Russisch-Polens der erste große Act der deutschen
Offensive sein muß, liegt das Geheimniß des hohen Werthes dieser Provinz im
Vertheidigungssysteme des Zarenreiches." Nun besäße die deutsche Operations¬
basis beim Vormarsche nach Russisch-Polen alle ökonomischen und militärischen
Bedingungen, wenn sie durchweg gesicherte Flanken hätte. Die linke Flanke ist
durch die Ostsee gedeckt, die rechte ungedeckt. Von Böhmen und Oesterreich-
Schlesien aus wäre die deutsche Basis auf der rechten Seite und im Rücken
zu bedrohen. „Deutschland hat sonach," wie Kirchhammer behauptet, „in einem
Kriege gegen Rußland militärisch das denkbar größte Interesse, Oesterreich-
Ungarn zum Freunde zu haben, zum mindesten seiner Neutralität sicher zu
sein", — wie Oesterreich-Ungarn, so fügen wir hinzu, bei einem Kampfe mit
den Russen das denkbar größte Interesse hat, zu wissen, daß Deutschland ihm
als Bundesgenosse zur Seite oder wenigstens ihm nicht feindlich gegenübersteht.

Wir wissen, daß diese Interessengemeinschaft jetzt auf beiden Seiten erkannt
und daß solcher Erkenntniß bei der vorjährigen Anwesenheit des Fürsten
v. Bismarck in Wien in einer Weise Ausdruck gegeben worden ist, die bis auf
R weiteres genügen wird.




Grenzboten I. 1SS0.29
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[0233] reich, welches von Galizien aus das Weichselland bis Jwangorod strategisch be¬ herrscht. Hauptmann Kirchhammer schreibt in Folge dessen wörtlich: „Die Freundschaft oder doch die Neutralität Oesterreich-Ungarns ist für Rußland im Fall eines Krieges gegen Deutschland vom denkbar größten Werthe." Eine russische Armee, die auf der Hauptoperationslinie Warschau-Posen-Berlin vorgeht, läßt die Provinz Preußen in der Flanke und im Rücken. Der Führer derselben muß folglich seine Kräfte theilen und eine zweite Armee zur Operation gegen die gedachte Provinz mit ihrer starken Vertheidigungslinie am Pregel verwenden. Dagegen erscheint Preußisch - Schlesien als die Achillesferse des deutschen Grenzgebietes, wo das reiche Breslau ganz offen daliegt. Hält man dies mit den großen Schwierigkeiten zusammen, welchen eine Offensive der Russen auf den nördlichen Operationslinien begegnen würde, so muß man annehmen daß die russische Armee bemüht sein würde, eine Erweiterung ihrer Basis in Schlesien zu gewinnen. Dies vermöchte sie aber eben nur, wenn Oesterreich- Ungarn es gestattete. In noch höherem Grade aber hat, wie Kirchhammer meint, Deutschland bei einem Kriege mit Rußland das zwingende Bedürfniß, seine Operationsbasis nach Schlesien auszudehnen. „Die deutsche Offensive kann in das Innere Ru߬ lands nur dann getragen werden, wenn sie Herrin des Weichsellandes, Russisch- Polens, ist. Darin, daß Deutschland den Besitz desselben vor allem erstreben muß, daß die Occupation Russisch-Polens der erste große Act der deutschen Offensive sein muß, liegt das Geheimniß des hohen Werthes dieser Provinz im Vertheidigungssysteme des Zarenreiches." Nun besäße die deutsche Operations¬ basis beim Vormarsche nach Russisch-Polen alle ökonomischen und militärischen Bedingungen, wenn sie durchweg gesicherte Flanken hätte. Die linke Flanke ist durch die Ostsee gedeckt, die rechte ungedeckt. Von Böhmen und Oesterreich- Schlesien aus wäre die deutsche Basis auf der rechten Seite und im Rücken zu bedrohen. „Deutschland hat sonach," wie Kirchhammer behauptet, „in einem Kriege gegen Rußland militärisch das denkbar größte Interesse, Oesterreich- Ungarn zum Freunde zu haben, zum mindesten seiner Neutralität sicher zu sein", — wie Oesterreich-Ungarn, so fügen wir hinzu, bei einem Kampfe mit den Russen das denkbar größte Interesse hat, zu wissen, daß Deutschland ihm als Bundesgenosse zur Seite oder wenigstens ihm nicht feindlich gegenübersteht. Wir wissen, daß diese Interessengemeinschaft jetzt auf beiden Seiten erkannt und daß solcher Erkenntniß bei der vorjährigen Anwesenheit des Fürsten v. Bismarck in Wien in einer Weise Ausdruck gegeben worden ist, die bis auf R weiteres genügen wird. Grenzboten I. 1SS0.29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/233>, abgerufen am 26.05.2024.