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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal.

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Die Venus von Milo.
v Veit Valentin. on (Schluß.)

Nach der Feststellung des allgemeinen Charakters des Grundmotivs unserer
Statue ergiebt sich als die weitere Aufgabe, dieses selbst zu erkennen. Wir
verwenden hierzu die Nebenmotive, weil diese als Folge aus dem Hauptmotiv
entspringen und daher mit diesem in Einklang stehen müssen. Das charakteri¬
stischste Nebenmotiv der milonischen Venus ist in der Gewandung enthalten.
Sie zeigt uns einen Zug, der sich bei Statuen sonst nirgends in gleicher Weise
wiederfindet. Nur einmal noch kommt er, und zwar bei der Venus Torlonia,
jedoch in abgeschwächter Weise ähnlich vor. Es ist die durch das starke Vor¬
treten des linken Beines veranlaßte Spannung des Gewandes und die sich
daraus ergebenden wenigen großen, aber kräftigen, von links nach rechts ab¬
wärts ziehenden Querfalten. Wäre das Aufstützen des linken Fußes nur ein
sogenanntes "künstlerisches" Motiv, gewählt, um eine hübsche Bewegung des Ge¬
wandes zu erzielen, so wäre diese Spannung nicht nur nicht nothwendig, sondern
sogar ungünstig, weil die Falten sich ohne Spannung viel anmuthiger legen
lassen, die Spannung aber zugleich die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkt,
der gar nicht besonders hervorgehoben werden sollte. Bei einem Künstler, der
solcher Kunstgriffe nicht bedarf, deutet dagegen diese Spannung gerade darauf
hin, daß in der That hier die Aufmerksamkeit des Beschauers erregt und auf
eine für das Verständniß des Ganzen nothwendige, ihren gewichtigen Theil mit
beitragende Bewegung gelenkt werden soll. Die Spannung muß also in der
Gesmnmtökonomie des Kunstwerks ihre Bedeutung haben und ist nichts Gleich-
giltiges. Der Zweck der Spannung liegt aber auf der Hand: sie soll das Ge¬
wand vor dem Fallen schützen, das Gewand, welches so lose um die Hüften
geschlungen ist und sich überdies auf der rechten Seite schon auf der am wei¬
testen ausladenden Stelle der Hüfte befindet, daß es ohne äußere Hilfe nicht
hafte" könnte. Diese Hilfe wird ihm in der That durch das Vortreten des
linken Beines und die dadurch bewirkte Entfernung von dem rechten, dem Stand¬
beine gewährt. Diese Art der Gewandhaltung ist eine ungewöhnliche und kann
daher nur aus einem besonderen, einer eigenartigen Lage entsprechenden Grunde
entspringen. Nun weiß aber wohl Jeder aus eigener Erfahrung, wann diese
Art der Gewandhaltung naturgemäß eintritt: die Hände müssen anderweitig be¬
schäftigt sein. Es muß also auch hier eine Veranlassung da sein, welche die


Die Venus von Milo.
v Veit Valentin. on (Schluß.)

Nach der Feststellung des allgemeinen Charakters des Grundmotivs unserer
Statue ergiebt sich als die weitere Aufgabe, dieses selbst zu erkennen. Wir
verwenden hierzu die Nebenmotive, weil diese als Folge aus dem Hauptmotiv
entspringen und daher mit diesem in Einklang stehen müssen. Das charakteri¬
stischste Nebenmotiv der milonischen Venus ist in der Gewandung enthalten.
Sie zeigt uns einen Zug, der sich bei Statuen sonst nirgends in gleicher Weise
wiederfindet. Nur einmal noch kommt er, und zwar bei der Venus Torlonia,
jedoch in abgeschwächter Weise ähnlich vor. Es ist die durch das starke Vor¬
treten des linken Beines veranlaßte Spannung des Gewandes und die sich
daraus ergebenden wenigen großen, aber kräftigen, von links nach rechts ab¬
wärts ziehenden Querfalten. Wäre das Aufstützen des linken Fußes nur ein
sogenanntes „künstlerisches" Motiv, gewählt, um eine hübsche Bewegung des Ge¬
wandes zu erzielen, so wäre diese Spannung nicht nur nicht nothwendig, sondern
sogar ungünstig, weil die Falten sich ohne Spannung viel anmuthiger legen
lassen, die Spannung aber zugleich die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkt,
der gar nicht besonders hervorgehoben werden sollte. Bei einem Künstler, der
solcher Kunstgriffe nicht bedarf, deutet dagegen diese Spannung gerade darauf
hin, daß in der That hier die Aufmerksamkeit des Beschauers erregt und auf
eine für das Verständniß des Ganzen nothwendige, ihren gewichtigen Theil mit
beitragende Bewegung gelenkt werden soll. Die Spannung muß also in der
Gesmnmtökonomie des Kunstwerks ihre Bedeutung haben und ist nichts Gleich-
giltiges. Der Zweck der Spannung liegt aber auf der Hand: sie soll das Ge¬
wand vor dem Fallen schützen, das Gewand, welches so lose um die Hüften
geschlungen ist und sich überdies auf der rechten Seite schon auf der am wei¬
testen ausladenden Stelle der Hüfte befindet, daß es ohne äußere Hilfe nicht
hafte» könnte. Diese Hilfe wird ihm in der That durch das Vortreten des
linken Beines und die dadurch bewirkte Entfernung von dem rechten, dem Stand¬
beine gewährt. Diese Art der Gewandhaltung ist eine ungewöhnliche und kann
daher nur aus einem besonderen, einer eigenartigen Lage entsprechenden Grunde
entspringen. Nun weiß aber wohl Jeder aus eigener Erfahrung, wann diese
Art der Gewandhaltung naturgemäß eintritt: die Hände müssen anderweitig be¬
schäftigt sein. Es muß also auch hier eine Veranlassung da sein, welche die


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[0071] Die Venus von Milo. v Veit Valentin. on (Schluß.) Nach der Feststellung des allgemeinen Charakters des Grundmotivs unserer Statue ergiebt sich als die weitere Aufgabe, dieses selbst zu erkennen. Wir verwenden hierzu die Nebenmotive, weil diese als Folge aus dem Hauptmotiv entspringen und daher mit diesem in Einklang stehen müssen. Das charakteri¬ stischste Nebenmotiv der milonischen Venus ist in der Gewandung enthalten. Sie zeigt uns einen Zug, der sich bei Statuen sonst nirgends in gleicher Weise wiederfindet. Nur einmal noch kommt er, und zwar bei der Venus Torlonia, jedoch in abgeschwächter Weise ähnlich vor. Es ist die durch das starke Vor¬ treten des linken Beines veranlaßte Spannung des Gewandes und die sich daraus ergebenden wenigen großen, aber kräftigen, von links nach rechts ab¬ wärts ziehenden Querfalten. Wäre das Aufstützen des linken Fußes nur ein sogenanntes „künstlerisches" Motiv, gewählt, um eine hübsche Bewegung des Ge¬ wandes zu erzielen, so wäre diese Spannung nicht nur nicht nothwendig, sondern sogar ungünstig, weil die Falten sich ohne Spannung viel anmuthiger legen lassen, die Spannung aber zugleich die Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenkt, der gar nicht besonders hervorgehoben werden sollte. Bei einem Künstler, der solcher Kunstgriffe nicht bedarf, deutet dagegen diese Spannung gerade darauf hin, daß in der That hier die Aufmerksamkeit des Beschauers erregt und auf eine für das Verständniß des Ganzen nothwendige, ihren gewichtigen Theil mit beitragende Bewegung gelenkt werden soll. Die Spannung muß also in der Gesmnmtökonomie des Kunstwerks ihre Bedeutung haben und ist nichts Gleich- giltiges. Der Zweck der Spannung liegt aber auf der Hand: sie soll das Ge¬ wand vor dem Fallen schützen, das Gewand, welches so lose um die Hüften geschlungen ist und sich überdies auf der rechten Seite schon auf der am wei¬ testen ausladenden Stelle der Hüfte befindet, daß es ohne äußere Hilfe nicht hafte» könnte. Diese Hilfe wird ihm in der That durch das Vortreten des linken Beines und die dadurch bewirkte Entfernung von dem rechten, dem Stand¬ beine gewährt. Diese Art der Gewandhaltung ist eine ungewöhnliche und kann daher nur aus einem besonderen, einer eigenartigen Lage entsprechenden Grunde entspringen. Nun weiß aber wohl Jeder aus eigener Erfahrung, wann diese Art der Gewandhaltung naturgemäß eintritt: die Hände müssen anderweitig be¬ schäftigt sein. Es muß also auch hier eine Veranlassung da sein, welche die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157681/71>, abgerufen am 05.05.2024.